Echt jetzt, Askese???
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Sofort beginne ich, meine Psyche aufzuräumen.
Mit dem Wort und christlichen Konzept der Askese konnte ich nie viel anfangen. Ich sehe Nonnen vor mir, die auf Steinböden knien, den ganzen Tag beten, nur Wasser und Brot zu sich nehmen. Sie dürfen nicht lachen, nicht lebendig sein, es ist kalt. Ich sehe die strenge Mutter Oberin und machtgierige Kirchenoberste.
Dann flattert dieser Textausschnitt zu mir (Danke Eva!), mit einer neuen Definition, der „Askese der Zukunft“:
„Askese ist nicht Verzicht sondern die Konzentration auf das Wesentliche.
Das größte Missverständnis der Askese ist
Der Verzicht
In der Askese der Zukunft
Die aus keiner Religion kommt
Und keinem System dient
Geht es nicht ums Verzichten
Es geht darum zu erkennen
Wie wenig ich brauche
Was brauche ich wirklich
Askese, in wenigen Worten
Ist die Übung der Konzentration auf das Wesentliche
Eine Verständigung mit sich
Über die Frage
Worauf es ankommt.
(John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche, S.7)
Hier war er, der Blitz. Askese ist nicht Verzicht, sie ist der Fokus auf das Wesentliche. Der modernere Begriff ist vielleicht der Minimalismus. Auch da: es geht nicht darum, möglichst wenig zu haben, sondern das Wesentliche in den Fokus zu rücken. Meine „Dinge“ habe ich schon gut aussortiert. Ich habe kaum noch „Zeug“, von dem ich gar nicht weiß, dass ich es habe und es nicht benutze. Teller haben wir trotzdem mehr als die drei, die wir regelmäßig brauchen. Denn das Wesentliche sind nicht nur die Teller, sondern Leichtigkeit, Gemeinschaft, ganz ehrlich auch Gewohnheit. Klar würden wir auch mit 3 Tellern zurechtkommen, aber nur weil ich es kann, muss ich es ja nicht.
Durch den „Blitzschlag“, der durch den Text oben ausgelöst wurde, haben sich verschiedene Gedanken in mir verbunden: Michael Singer (Bestsellerautor von „The untethered soul“ und „The surrender experiment“) weist immer wieder darauf hin, wie viel wir in uns ansammeln. Wie viele schlechte Erinnerungen wir z.B. behalten. Ein Bild, das er benutzt, hat sich mir sehr eingeprägt. Sinngemäß sagt er: „Es ist, als ob wir alles Essen, das schlecht ist, aufheben und irgendwo sammeln.“ „Oh, der Apfel ist braun und schimmlig, ungenießbar. Den hebe ich auf!“ Oder: „Dieses Gericht schmeckt so gruselig, davon stelle ich ein Schälchen ins Regal.“ Das würden wir nicht tun. Die Analogie zu Erinnerungen und Gedanken, die uns nicht guttun, die wir aber ständig doch wieder hervorkramen, gefällt mir sehr gut. Es geht um das Festhalten. Das Aufheben, das Sammeln. Beziehungsweise umgekehrt um eine innere Askese. Bei Michael Singer geht es auch um schöne Situationen, die wir festhalten und versuchen zu rekonstruieren. Das kann nur schief gehen. Damit sind wir nicht mehr im Jetzt. Wenn du einem Restaurant warst und das beste Essen deines Lebens gegessen hast, rät Singer: „Geh´ nicht wieder hin!“ Es wird nie mehr so sein!
Zurück zur Askese und meiner Psyche: was ist das Wesentliche? Was brauche ich wirklich? Nicht nur im Außen, sondern auch und vor allem im Inneren? An welchen Situationen, Gedanken und Erinnerungen halte ich fest? Welche sind wirklich wesentlich? Was sind die Dinge, über die ich dauernd nachdenke, ohne dass sie mir guttäten oder sich etwas ändern würde? Mir fallen direkt so einige ein.
Askese könnte meinen: lass´ sie gehen. Verzichte darauf, diese Gedanken weiter zu denken.
Ja, das ist nicht leicht, denn die Gedanken und Erinnerung kommen wieder – jedoch kann ich entscheiden, ob ich sie festhalte und weiter denke, oder ob ich sie ziehen lasse. Sie durch meinen Körper fließen lasse, die Erfahrung, die damit zusammenhängt verarbeite und dadurch immer mehr im Jetzt sein kann. Nein, es ist nicht einfach – aber auch kein Ding der Unmöglichkeit. „Disziplin“ kommt mir hier in den Sinn. Ich kann das entscheiden. Robert Gonzales kommt mir in den Sinn, mit Living Compassion und „umarme, was ist“; lass´es da sein, lass es durch dich hindurch fließen. Sperre es nicht ein, halte es nicht fest. „Nichts-Tun-Workshop„, Dyaden-Meditationen – plötzlich bekommt alles in mir einen neuen Platz. Mit Askese – dem Fokus auf das Wesentliche, nicht nur im Außen, sondern auch und vor allem in mir drin. Es scheint mir verschiedene Herangehensweisen mit demselben Ziel zu geben: ich räume alles weg, was ich nicht brauche, bis nur noch das Wesentliche übrig ist, oder ich picke das Wesentliche heraus und alles, was ich nicht herausgepickt habe, kann weg. Askese? I like.
Liebe Iris,
ich bin erst heute dazu gekommen, Deinen Blick in Ruhe zu lesen.
Er hat mich förmlich angesprungen und passt derzeit wie die Faust aufs Auge zu meiner schwierigen privaten Situation. Herzlichen Dank für diese tolle Inspiration!
Liebe Grüße
Annika
Liebe Iris, liebe Alle,
nach dem Lesen des Blogartikels und der vielen Kommentare ist das Lächeln nicht mehr aus meinem Gesicht gewichen. Viel Resonanz und Verbundenheit ist grad da und ein erleichtertes Aufatmen konnte ich an einigen Textstellen bei mir wahrnehmen. Interessant…
Und verbindet, dass wir alle auf dem Weg sind. Das finde ich gerade unheimlich schön, mal wieder vor Augen geführt zu bekommen.
wie schön ist es, andere zu hören/lesen, die sich mit dem Leben und ihrer Verortung darin beschäftigen.
Was brauche ich? was meine ich zu brauchen? wie brauche ich? warum das Alles? Ausmisten? von was? wozu? was macht das mit mir? brauche ich das? was verspreche ich mir davon? und immer wieder zu allen Tagen auch warum, wieso, wie….
Ich liebe die Fragen, die mich in meiner Ent-wicklung begleiten..
Danke für Eure Kommentare
Sharchen
Liebe Iris,
wunderbar lesen sich Deine Zeilen und inspirieren mich, wieder einmal tiefer darüber zu sinnieren.
Impulse zum Leichterwerden finde ich in der von Dir beschriebenen Askese, doch hätte auch ic hes nicht so genannt. Das Wort Askese ist halt schon aus langen, vergangenen Zeiten vorbelastet und von was Anderem geprägt. Ich kann es reinigen und neu hinstellen, seine Bedeutung klar ausmachen. Vielen Dank für die Anregung in Deinem Blog. Deine Worte und Sätze rund um die Askese kommen für mich ganz klar rüber.
Ich liebe es, Worte in meinem „Schrank“ rauszunehmen und mit all meinen Sinnen zu betrachten, sie für mich neu zu definieren und sie, wenn es passt, wieder in den Schrank zu legen. Wie schön es ist, wenn dann die anderen Worte und Sätze, die neben diesem Wort liegen, ein wenig verrückt werden, damit alles wieder einen stimmigen Platz findet. Einfach schön, Klarheit zu schaffen, innen und außen. Das passt gerade zur momentanen „Fastenzeit“ ganz gut.
Liebe Sortiergrüße
Gabriele
Toller Impuls, Iris!
Ich glaube zudem, dass das innere Ausmisten eine Voraussetzung dafür ist, auch im Außen Entwicklung viel mehr qualitativ zu sehen, anstatt immer mehr Sachen anzuhäufen und dadurch Ressourcen zu verschleudern. Vielleicht ist die Askese, das Fasten, der einzige Weg um zu erleben, was ich wirklich brauche und davon zu unterscheiden, was eher ‚mich braucht‘.
Liebe Iris,
da ist nix Verwirrendes in deinen Gedanken, die du mit uns teilst. Spricht mit total an. Ich weiß z.B. schon seeeehr lange, dass für mich gilt: Weniger ist mehr! Und dennoch bin ich immer noch am „Sammeln“. Bis ich wieder mit der Nase draufgestoßen werde und mir sage: Stop! Das brauche ich nicht.
Wohnung ausmisten mache ich seit Jahren, und dennoch ist es noch zu viel. Eine Freundin meinte mal zu mir: Hast du denn überhaupt noch was in deiner Wohnung…. WEIL ich ihr immer wieder vom Ausmisten erzähle.
Und in meinem Innern – übe ich seit geraumer Zeit auch (angeregt durch die Dyaden), mit dem zu sein, was ist. Und alles andere drum herum zu lassen. Ein Buch, was mir total die Augen geöffnet hat, ist „Mit dem Herzen eines Buddha“ von Tara Brach. Radikale Akzeptanz. Da bin ich dran.
Mir hilft auch, mir zu sagen: Alles ist ein Prozess. Dieses „jetz hab ich’s“ kommt zwar immer wieder in mein Hirn – ist fast lustig. Weil die Prozesse halt immer weiter gehen.
Insofern – super Beitrag, danke! Wir sind im Prozess!
Liebe Grüße
Ulrike
Liebe Iris,
danke für diese Inspiration. Auch mir ist die Aussage mit dem „Wesentlichen“ von John von Düffel in einem Artikel im aktuellen „Publik Forum“ begegnet und hat mich angesprochen. Den Gedanken von dir, inneren Ballast loszuwerden finde ich toll und möchte direkt ausprobieren, wie das geht. Vielleicht klappt das mit dem Ausmisten ja auch andersherum, erst innen, dann außen? Gerade letzte Woche hab ich Kolleginen erzählt, wie schwer es mir fällt, mich von manchen Dingen zu trennen. Ich werde den besagten Artikel direkt noch mal richtig lesen.
LG Regina
Liebe Iris, vielen Dank für den wertvollen Beitrag. Er hat mich motiviert, nicht direkt wieder mit meinen vielen to do’s zu starten, sondern mit einer Meditation, die mich immer wieder zu mir bringt. Vielen Dank und herzliche Grüße! Julia
Super liebe Iris,
Ein sehr wesentlicher Beitrag für mich gerade jetzt mit der Verbindung von außen und dem Inneren, unseren Gedanken und auch hier beide einzubeziehen, nicht nur die unangenehmen Erinnerungen, sondern auch die schönen..
Ich löse gerade meine Wohnung auf und bin deshalb im außen gut im Prozeß. Mache in ein paar Tagen einen Meditationsretreat und nehme deinen Impuls mit, im Inneren zu schauen, wo ich Ballast mit mir herumschleppe. ♥️ Herzlichen Dank und Liebe Grüße Sigrid
Liebe Iris, danke für deinen Blog. Ja, es resoniert…. ich habe festgestellt, dass Ausmisten im Außen auch zu einer Erleichterung im Inneren führt.
Die Idee, ich kann mich entscheiden, kenne ich. Ich höre nur noch einige Stimmen in mir, die bei der Entscheidung mitreden wollen.
Es ist ein Prozess LG Katrin