Eine Prise mehr Radikalität, bitte.
Radikal & Gewaltfreie Kommunikation? Wie passt dass denn zusammen. Sehr gut, wie ich finde. Ich denke sogar – GFK ohne Radikalität ist keine richtige GFK. Ist quasi GFK auf Sparflamme.
Aber lass uns doch vorne anfangen. Hier und da läuft mir mal das Konzept von „Radical Honesty“ über den Weg, also „Radikale Ehrlichkeit“. Der Kernaspekt von Radical Honesty besteht darin, ehrlich und authentisch zu sein, indem man seine wahren Gedanken, Gefühle und Meinungen ausdrückt, ohne Rücksicht auf soziale Konventionen oder die möglichen Konsequenzen. Es geht darum, die Spannungen und Disharmonien, die durch Lügen und Geheimhaltung entstehen können, zu reduzieren, indem man sich darauf konzentriert, präsent und verantwortungsbewusst zu kommunizieren.
Einfach so jemandem seine Gedanken ungefiltert an den Kopf zu werfen hat natürlich wenig mit GFK zu tun. Aber mir geht es um den Aspekt des radikalen und offenen Teilens dessen, was in uns vor sich geht.
Ich finde, dass dieser Aspekt in der Anwendung der GFK oft zu wenig Beachtung und Anwendung findet. Und das aus „guten Gründen“ – wir halten uns zurück um uns selbst zu schützen – aus Angst davor Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Verbindung oder Harmonie zu verlieren.
Was aber, wenn genau diese radikale Ehrlichkeit – vor allem in engen Beziehungen, langfristig zu viel mehr Verbindung und Vertrauen führt. Und auf Dauer viel mehr Bedürfnisse erfüllt. Wenn wir nur diese Angst überwinden und stattdessen in unsere Fähigkeit vertrauen, schwierige Situationen mithilfe der GFK zu navigieren.
In meinem Leben bin ich gerade auf der anderen Seite mit genau dieser radikalen Ehrlichkeit konfrontiert. Auf der anderen Seite. Ich bekomme sehr klar und sehr deutlich gesagt, was von mir erwartet wird und bekomme sehr klares Feedback. Auf der einen Seite erschüttert es mich in meinen Grundfesten – rüttelt an tiefen Glaubenssätzen und Mustern, die ich habe. Das ist sehr schmerzhaft und gleichzeitig sehe ich die transformative Kraft, die daraus entsteht. Die Chance zu wachsen und mich zu entwickeln, wenn ich es schaffe da zu bleiben und nicht schreiend weg zu laufen.
Nochmal, ich rede hier nicht von einer verletzenden Ehrlichkeit, in der man einfach ungefiltert seine Urteile über jemandem auskippt – aber ich rede von einer Deutlichkeit, einer Klarheit, einer Ehrlichkeit – die sehr tief geht – und gleichzeitig schmerzhaft sein kann.
Es ist sehr bewegend, wenn man sich während dieses Prozesses gegenseitig sehen kann. Darin, wie schwer es ist – sich in dieser Klarheit auszudrücken, weil man sehr genau weiß, wie es die andere Person schmerzt. Und auf der anderen Seite eben mit dem Schmerz des inneren Prozesses, den die Klarheit möglicherweise gerade auslöst. Und ist es nicht auch ein großer Beweis von Vertrauen, einem Menschen der einem am Herzen liegt, diesen inneren Prozess zuzumuten? Ihn in der Selbstverantwortung zu lassen und zu vertrauen, dass man gestärkt transformiert daraus hervorgeht.
Das ist die radikale Ehrlichkeit, die ich mir für dich und die Gewaltfreie Kommunikation wünsche. Ich kann diese Widerstände deutlich spüren, Klarheiten zu schaffen. Und ich kenne mein Muster – ignorieren und wegschauen. Das kenne ich seit meinen ersten Jugend-Beziehungen, die eigentlich vorbei waren und ich mich so lange nicht traute, Klarheiten zu schaffen, bis ich so unerträglich wurde, dass die andere Seite Klarheiten schaffte. (Gut, damals kannte ich auch noch kein GFK ;-))
Heute ist es immer noch nicht leicht, aber ich habe mehr Vertrauen, dass ich mit den auftauchenden intensiven Situationen besser umgehen kann.
Welche Klarheiten willst du lange schon schaffen? Vielleicht gibt es auch kleine Mini-Klarheiten, mit denen du mal starten möchtest? Du könntest auch mal deinem inneren Widerstand zuhören und ihn fragen, was er eigentlich befürchtet, wenn du radikal ehrlich bist – und ihm dafür Empathie geben.
Wie auch immer – ich wünsche dir, dass du diesen Impuls dafür nutzen kannst, mehr Ehrlichkeit und Klarheit in dein Leben und in das Leben anderer Menschen zu bringen. Es ist richtig anstrengend- und es fühlt sich richtig gut an. Für beide Seiten. Go for it!
Oliver
Wenn ich weiß, dass etwas jemand anderem sehr weh tun wird, dann tue bzw. sage ich es nicht. Trotzdem schaffe ich es, ein Leben ohne Lügen und Geheimnistuerei zu führen. Für mich macht der Ton die Musik. Und dann kommt es auch immer auf das zeitliche Timing an. Ich sehe keinen Wert darin, anderen Menschen Schmerz zuzufügen und glaube nicht, dass das der Preis ist, den man für Ehrlichkeit und Verbundenheit zahlt. Mit ein wenig (erwachsener) Voraussicht und Einschätzung der Situation kann ich beide Bedürfnisse in mir verbinden: Das Bedürfnis, zu mir selbst zu stehen (Autonomie), und das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit und Harmonie. Beides ist gleichzeitig möglich.
Deine Vermutung trifft nicht zu.
Mein Kommentar bezieht sich auf EINE PRISE MEHR RADIKALITÄT, BITTE. 😉
Danke für diesen Beitrag. Er hat uns eine interessante Diskussion am Abend geschenkt. Ein Punkt an dem wir etwas hängen geblieben sind bei der radikalen Ehrlichkeit ist folgender.
Kommt eine solche Ehrlichkeit eigentlich nur in spontanen Äußerungen zu stande? Hintergrund der Frage ist die Überlegung dass doch jede Selbstreflektion, jede Suche nach Formulierungen, jede „Überlegung“ wie ich mich ausdrücke vor einer Äußerung eine Tendenz hat genau diese Ehrlichkeit zu beeinflussen. Einfach weil ja dann doch wieder meine Einschätzung von eigenen und fremden Reaktionen auf meine Äußerung mit bedacht werden. Dies zu vermeiden scheint mir fast unmöglich.
Ich hoffe das ist so verständlich.
Wenn das Selbst nicht genügt, entwickelt sich ein „ich“ welches sich stetig bemüht..
Es brauch keine Methode um Selbst zu sein. Das „ich“ glaubt an Methoden, und ist solange nicht Selbst.
Ich vermute, dein Kommentar bezieht sich auf den Beitrag über unser „Selbst“ und unsere Anteile, oder? (https://klarweit.de/ich-bin-kaputt-oder/)
Ich stimme dir absolut zu, unsere Ichs, also unsere vielen Anteile brauchen „Methoden“, damit sie sich sicher fühlen und mehr Raum machen, damit das Selbst mehr Platz bekommt. Insofern ist für mich beides wahr, Methoden sind hilfreich – und das Selbst braucht sie eigentlich nicht. Es ist immer da – nur manchma wird es von allzu vielen Stimme überlagert.