Ich bin kaputt. Oder?

Vielleicht kennst du das – Ich war lange Zeit davon überzeugt, dass ich innerlich kaputt bin. Zerstört durch äußere Einflüsse und Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend. Durch Erfahrungen während meiner Schulzeit und durch Situationen, an die ich mich nicht erinnern kann. Diese ganzen Erfahrungen haben mich kaputt gemacht. So war meine Annahme, so hat es sich für mich angefühlt. Es war die einzige Erklärung dafür, dass mein Leben nicht so verlief, wie ich mir das vorstellte. Die einzige Erklärung dafür, warum ich nicht glücklich bin.
Aber welche Konsequenz hat diese Annahme überhaupt? Es bedeutet, ich muss wieder ganz werden, um glücklich zu sein, um befreit zu sein, um mein Leben in die Hand nehmen zu können. Ich muss alles in mir heilen und mich reparieren, damit ich dann wieder ganz bin. Damit ich okay bin. Damit ich gut bin, so wie ich bin. Ich laufe immer dem Ziel der Vollständigkeit hinterher, es gibt immer noch was zu reparieren, weil es immer Situationen gibt, in denen nicht alles perfekt ist. Das ist die Realität, in der man dann lebt. Ich bin kaputt – und ich muss mich weiter reparieren und optimieren.
Es gibt Menschen, die sehen das anders.
Richard Schwartz, Robert Kržišnik und Robert Gonzales haben eine Sache gemeinsam. Sie sind der Überzeugung, dass wir nicht kaputt sind und niemals zerstört werden können. Du hast richtig gelesen – es gibt NICHTS auf dieser Welt, was unseren innersten Kern zerstören kann. Du und ich und jeder andere Mensch haben einen unzerstörbaren inneren Kern. Tief in dir drin bist du ganz. Dein Wesenskern ist ungebrochen, intakt und wunderbar. Das ist erstmal nur ein Gedanke, eine Idee. Aber vielleicht kannst du diesen Gedanken kurz zulassen und schauen, ob sich etwas ändert. Danach gebe ich deinem Verstand gerne ein paar Hintergrundinfos und Erklärungen. Aber für den Moment ist die Einladung, kurz mit dieser Idee zu sitzen und dich daran zu erinnern, dass du in dir einen unzerstörbaren Wesenskern hast, der nicht kaputt ist und nie kaputt war.

Wie kann das sein? Warum ist mein Leben dann so schwer?
Ich habe also diese Menschen in meinem Leben getroffen, die ein anderes Erklärungsmodell für unseres Innenleben und unser Verhalten haben. Es brauchte ein paar von Ihnen, bis es in mein Bewusstsein vorgedrungen ist – aber hey, besser spät als nie. Diese Menschen und ihre Einsichten möchte ich dir gerne kurz vorstellen, in der Hoffnung, dass auch du diese andere Realität wahrnehmen kannst.
Richard Schwartz und das „Innere Familien System“
Richard Schwartz ist der Entwickler von IFS (Internal Family System) – er nennt diesen inneren Kern unser „Selbst“. Es ist das Zentrum unseres Wesens und unsere tiefste Essenz. Es ist frei von Urteilen, Schuld oder Scham und hat die Fähigkeit, alle unsere Anteile zu verstehen und zu akzeptieren, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Diese inneren Anteile sind eine Reaktion unserer Psyche auf Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben.
Wenn „ich“ also denke, „ich“ bin kaputt – dann ist es eigentlich ein Anteil von mir, der das denkt. Dieser Anteil hat die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, von sich selbst zu denken, kaputt zu sein. Solange ich irgendein Urteil über mich habe, ist es ein Anteil, der das denkt – es ist nicht mein Selbst. Und es ändert auch nichts daran – das es diesen unzerstörbaren Kern gibt. Die Frage ist nur, wer hat in mir das Steuer in der Hand und kann ich öfter meinem „Selbst“ das Steuer übergeben. Habe ich mein wahres „Selbst“ überhaupt schon jemals kennengelernt?
Robert Gonzales und Living Compassion
Für Robert ist das Selbst sogar noch etwas mehr – es ist nicht nur das Zentrum unseres Wesens, sondern es ist das „Einssein“ selbst, das alles in uns umfasst und miteinander verbindet. Dieses Selbst ist in der Lage, alle Aspekte in uns zu verstehen und zu integrieren, unabhängig davon, ob sie als „positiv“ oder „negativ“ betrachtet werden. Für Robert war der Weg zur Integration dieser Anteile Mitgefühl und Akzeptanz. Also anstatt unsere Anteile zu unterdrücken, ihnen mit mitfühlender Präsenz, Offenheit und Neugierde zu begegnen. Du siehst, die Sichtweisen sind sehr ähnlich. Ein unzerstörbarer Kern, der in der Lage ist, unsere „kaputten“ Anteile anzunehmen. Natürlich sind die Anteile auch nicht kaputt, sie haben nur Strategien entwickelt, die heute vielleicht nicht mehr hilfreich sind.
Robert Kržišnik: Wer bin ich?
Ein lyrischer Ansatz, der das Gleiche ausdrückt. Auszug aus dem Buch „Remembering what this is“.
Je mehr du Raum und Zeit mit deiner Schwerkraft verbiegst,
desto mehr ziehst du alle gefrorenen,
traumatisierten Teile deines Selbst an,
die wie Weltraumschrott auf äußeren Umlaufbahnen schweben,
und ziehst sie zurück in die Wärme, ins Licht,
indem du sie zurück in die Ganzheit von dir schmelzen lässt.
So bringst du alles von dir in dieses Leben.
Ja, du bist willkommen.

Die Reise zum Mittelpunkt … von dir Selbst
Ist mindestens genau so spannend wie die zum Mittelpunkt der Erde 🙂 Zumindest weißt du jetzt, dass es einen Mittelpunkt in dir gibt und hast vielleicht ein neues Ziel für deine Reise. Egal ob du eine IFS-Therapie anfängst, eines unserer Living-Compassion-Seminare besuchst oder zum Mai in unsere Übungsgruppe einsteigst (in der es im Mai um unsere inneren Anteile geht).
Wichtig ist, dich daran zu erinnern, dass du nicht kaputt bist. Du hast nur ein paar Teile um dich herum fliegen, die glauben, dass du kaputt bist. Begegne ihnen mit Mitgefühl und schau, was passiert.
Love,
Olli
Wenn ich in mein Innerstes eintauche, komme ich zu diesem inneren zutiefst verletzten Kind, das zerstört in der Ecke sitzt, zusammengekauert und allein. Ich frage mich mich manchmal, wieviel Therapie ich noch machen muss, wieviel Schichten ich noch abschälen muss, durch wieviel Schmerzen ich noch durchgehen muss, um endlich einmal eine Ahnung von diesem unversehrten Kern zu bekommen.
Liebe Imme, dein innerer, unversehrter Kern das, was dein inneres, verletztes Kind mit Mitgefühl und Warmherzigkeit annehmen und beaobachten kann. Wechsel deine Blickrichtung und vielleicht siehst du dann dein Selbst. Es ist der „Teil“, der alle anderen Teile mit Mitgefühl annehmen kann. Wenn du dich fragst: Wie geht es mir gegenüber diesem (verletzten) Teil und die Antwort ist sowas wie: „Mir geht das Herz auf.“ … dann hast du dein Selbst gefunden.
Danke für die Inspiration. Bisher hatte ich mit der Idee vom inneren Team zu tun. Da „sitzen“ alle Anteile mit ihren jeweiligen Eigenarten zusammen am Tisch und dann gibt es noch einen „Chef“ an der Stirnseite, der Ordnung in das Ganze bringen kann. Es war immer etwas schwierig, etwas über diesen Typen, der das Sagen haben sollte, herauszufinden. Es könnte also auch die Verkörperung des inneren unzerstörbaren Kerns sein. Diese Idee erzeugt Resonanz.
Freut mich, dass es in dir resoniert. Das Selbst ist sicher auch ein Chef, aber nicht so wie wir ihn uns vielleicht vorstellen. Sondern mehr so ein weiser, warmherziger und zugleich kraftvoller, starker Gandalf 🙂
Jemand, der in der Lage ist, die ganzen Leute aus dem Team zu akzeptieren, selbst wenn sie sich komplett daneben benehmen. Das wird dann früher oder später auch zu Ordnung führen. Aber eben nicht durch Macht, sondern mit Liebe 🙂
Olli, wie gut, daran erinnert zu werden, dass mit mir – und auch mit anderen – alles in Ordnung ist und dass ich unkaputtbar bin – mein Kern jedenfalls. Danke dafür.
Lieber Oliver,
mit diesem Gedanken des „unzerstörbaren Selbst“ gehe ich völlig mit.
Die Konsequenzen sind wundervoll: ich muss nichts verbessern; ich muss nicht irgendwo hingelangen und ich brauche nicht mal einen Guru oder Lehrer. Was ich lange im “Außen” suchte, finde ich “Innen”. Insofern gibt es auch nichts zu lernen. Verlernen ist das Motto. Was? Nun so Glaubenssätze wie: “Ich bin kaputt!”, oder: “Ich muss erfolgreich sein!” usw. Solche Überzeugungen haben wir uns nicht selbst ausgedacht. Das haben wir von Anderen übernommen und erzählen es uns später selbst. Die Anderen waren auch nicht schuld; sie wussten es einfach nicht besser. Diese Glaubenssätze wiederholen sich in Gedankenform immer und immer wieder in unseren Köpfen.
Da unser Selbst “unkaputtbar” ist bedeutet auch: Ich bin nicht meine Gedanken! Ich bin auch nicht meine Gefühle. Diese sind ein einziges Kommen und Gehen.
Sobald wir uns mit unseren Gedanken und Gefühlen identifizieren haben wir den Salat. Dann leiden wir. Erleben wir diese aber mit einer gewissen Distanz, können wir sagen:”Da bist Du mal wieder, Gedanke oder Gefühl. Du darfst kommen, bleiben und gehen.” Wenn wir ihnen diese Freiheit lassen, tun sie das Gleiche wie die Wolken; sie ziehen weiter. Wenn wir uns dagegen wehren, halten wir sie gewissermaßen fest.
Noch ein Letztes: Wenn wir uns selbst lieben – nicht unser aufgeblasenes Ego, sondern unser Selbst, unseren wahren Kern, tun wir der ganzen Menschheit etwas Gutes. Denn dann fällt es uns leicht, andere Menschen zu lieben, und auch die Natur und das Leben an sich.
Liebe Grüße
Lieber Olli, vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag. Ich kenne das, habe mit meinem Expartner immer wieder erlebt, dass er sich nicht für gut empfand. Dadurch dachte auch ich, er sei doch innen ‚kaputt‘. Wortwörtlich. Eigentlich ist meine Annahme aber auch, dass er in seinem Wesenskern erstmal gut ist. Wie gerne würde ich ihm deinen Beitrag zeigen können 🙂
Sehr inspirierender und anregender Text mit neuen schönen Gedanken über uns Menschen. Danke dafür!
Olli – wunderbarer Beitrag, kommt gerade richtig in der Richtung, in der ich mich bewege. Angeregt durch Tara Brachs Buch „Mit dem Herzen eines Buddha“, in dem es um radikale Selbstakzeptanz geht, versuche ich mich dahingehend zu öffnen.