Wie groß ist dein Gefängnis?
Heute morgen habe ich zum Abschluss meines Besuchs in Dublin zusammen mit Iris das berühmte Kilmainham Gaol Gefängnis in Dublin besucht. Das Bild zeigt den beeindruckenden Ostflügel des Gefängnisses, der in zahlreichen Filmen als Kulisse dient, unter anderem in „Michael Collins“, ein berühmter Führer des Irischen Unabhängigkeitskampfes.
Es war eine beeindruckende und bewegende Führung durch diesen historischen Ort, wobei mich besonders die intensive Vorstellung der harten Lebensbedingungen an solch einem Ort vor über 200 Jahren bewegt hat. Wie muss es sich angefühlt haben, wenn solch essentielle Bedürfnisse wie Freiheit und Autonomie, aber auch Sicherheit, eigener Raum und viele andere über Jahre so fundamental unerfüllt sind…?
Äußere und innere Freiheit
Gleichzeitig beschäftigt mich das Thema „Freiheit & Autonomie“ schon sehr lange, insbesondere die Unterscheidung von „äußerer“ und „innerer“ Freiheit. Was meine ich damit?
Im (physischen) Gefängnis ist meine „äußere“ Freiheit, also das Maß der Möglichkeiten, mich zu bewegen und verschiedene Dinge zu tun, auf ein absolutes Minimum eingeschränkt.
Auch wenn ich nicht im Gefängnis bin, kann meine „äußere“ Freiheit begrenzt sein, abhängig z.B. davon, in welchem Land ich lebe. Je nach Staatsform, Religion und anderen Faktoren, habe ich je nach Wohnort wesentlich mehr oder weniger Möglichkeiten und Freiheiten. Auch mein Alter und mein Geschlecht kann meine Freiheit begrenzen. Als Kind kann ich wesentlich weniger allein entscheiden, als als Erwachsener. Wenn ich wenig oder gar kein Geld zur Verfügung habe, schränkt sich mein Handlungsspielraum ebenfalls dramatisch ein. Dies sind einige der „äußeren“ Faktoren, die mir spontan einfallen, die das Maß meiner Möglichkeiten erweitern oder einschränken können.
Was mich allerdings weit mehr fasziniert ist das, was ich für mich als „innere Freiheit“ oder eben auch Unfreiheit benannt habe. Denn äußerlich fühle ich mich hier in Deutschland kaum nennenswert eingeschränkt. Ja, ich „muss“ Steuern zahlen, darf Dinge die gesetzlich verboten sind nicht tun und einiges mehr, doch nichts davon fühlt sich für mich als schmerzlich präsente Unfreiheit an.
Worüber ich mir immer mehr bewusst bin, ist wie viele „innere“ Gefängnismauern in mir sind. Durch meine Muster, Ängste, Scham, Überzeugungen und Glaubenssätze. Je sensibler ich werde, um so öfter fällt es mir auf:
Spreche ich ein fremdes Gegenüber in der Bahn an, einfach so, um ein Gespräch zu beginnen?
Nehme ich an der Käsetheke ein Stück zum Probieren, auch wenn ich sicher bin, den Käse nicht kaufen zu wollen?
Mache ich einen Witz der mir gerade einfällt, oder halte ich ihn zurück, weil ihn vielleicht jemand nicht lustig findet?
Gehe ich in ein Restaurant und frage, ob ich die Toilette benutzen kann, auch wenn ich dort nichts verzehre?
Sage ich meiner Partnerin, wo und wie ich gerne intim berührt werden möchte?
Versuche ich im Ausland meine wenigen Sätze, die ich in der Landessprache kann, oder weiche ich sofort auf Englisch aus?
Probiere ich im Seminar spontan eine ganz neue Übung, die ich noch nie probiert habe, oder nehme lieber das Sichere, Bekannte?
Tanze ich in der Fußgängerzone, weil mir gerade die Musik, die ich höre gefällt, oder halte ich mich zurück?
Kündige ich den Job, der mich nicht erfüllt, auch wenn ich noch keinen neuen habe?
Das sind nur die ersten Beispiele, die mir ohne nachzudenken einfallen und ich könnte diese Liste endlos fortsetzen. Kennst du das auch? Wie würde deine Liste aussehen? DAS ist für mich das relevante Gefängnis: MEIN eigenes, inneres Gefängnis. Die Welt steht mir offen, ich kann fast alles tun und lassen was ich will. Aber wie viel davon tue ich wirklich? Und geht es dabei um die große Weltreise, das riesige Wagnis, oder vielleicht viel mehr um die vielen, täglichen Momente, an denen sich entscheidet, ob ich frei bin oder nicht?
Was bewegt es in dir das zu lesen? Kennst du diese inneren Gefängnismauern? Oder fühlst du dich weitgehend frei? Ich bin gespannt und freue mich auf einen Austausch! 🙂
Jürgen
Hallo Jürgen,
ein sehr interessantes Thema, das Gefängnis, finde ich.
Vor Jahren hatte ich einfach die Nase voll und bin einige Tage aus meinem empfundenen Gefängnis ausgerissen.
Das Gefängnis empfand ich damals in meiner Ehe.
Es war so mühselig, mich so eng zu fühlen und ich ging zuerst im Wald spazieren. Ich nahm mir vor, einfach nur auf meine Freude zu achten. Ich hörte die Geräusche im Wald, die Vögel, atmete die gute Luft. Gleichzeitig bemerkte ich, dass mein Gehirn viele Vorurteile zu meinem Tun dachte. Das kannst du doch nicht machen, schau, wie die Leute dich anschauen, die Dir entgegenkommen, wie sehen die denn aus, was haben die für einen ärgerlichen Gesichtsausdruck…! Ich schickte diese Gedanken immer wieder aus meinem Gedankenkarusell raus und nach mehreren Minuten hatte ich es geschafft!
Was war das für ein Erlebnis? Ich spürte das rascheln der dürren Blätter unter meinen Füßen und trockene Samenstände schepperten ganz leise wie eine Kinderrassel. Ich hatte so eine Freude dabei!
Immer wieder hatte ich meine liebe Not, meine Gedanken bei der Freude zu lassen. Es war große Achtsamkeit dazu nötig! Ich begann, mich über meine Gedanken zu wundern, das half mir, wieder zu mir und zu meinen Erlebnissen im Wald zurückzukehren. Ins Hier und Jetzt zu gelangen udndort zu bleiben ist gar nicht so einfach!
Ich erinnere mich gerne an diese Tage zurück und weiß, dass ich selbst mein Gefängnis mit meinen Gedanken erschaffe und nur selbst aussteigen kann.Das heißt es für mcih immer wieder: Dranbleiben!
Liebe Grüße
Gabriele
Lieber Jürgen,
Danke für Impuls! Ein tief bewegendes Thema! Vielleicht passt dieser Link mit einem Interview M. Ballwegs nach seiner kürzlichen Entlassung aus U-Haft gut dazu. Achtsam sein gegenüber dem, was war und dem, was ist, mag ein wichtiger Weg sein.
https://www.epochtimes.de/politik/michael-ballweg-im-epoch-times-gespraech-vom-knast-direkt-zurueck-in-den-politischen-kampf-a4220498.html?utm_source=mail&utm_medium=mail&utm_campaign=NL_20230406
Hallo Jürgen,
meinen Kolleg:innen gegenüber spreche ich in letzter Zeit von Mauern, gegen die ich anrenne. Upps. Es sind meine inneren Mauern. Niemand zwingt mich. Erschrecken, Scham und Neugier auf das Wandeln des Bildes.
Danke für den Impuls 🙂
Viele Grüße Christine
Lieber Jürgen,
normalerweise schreibe ich keine Kommentare, aber diesmal… fand ich deine Worte zu inspirierend 😉
Mir fällt als äussere Freiheitsbeschränkung sofort noch Krankheit ein.
Ein Freund von mir hat mir mitte 30 Krebs, die Chemotherapie hat die gewünschte Wirkung und
die bekannten scheusslichen (ja eine Wertung :-)) Nebenwirkungen. Da sein Imunsystem am Boden liegt darf er sich mich niemand treffen, ein hustendes Kind kann ihn das Leben kosten.
Und doch hat er innere Freiheit. Er weiss sich in Gottes Hand und er sagt: „Mein Job ist „gesund werden“ und ich gebe alles. Ist anstrenged, aber ich komme voran und die Wirksamkeit (Tumor ist inzwischen weniger als halb so gross wie am Anfang) motiviert mich ungemein. Wenn ich platt bin und auf dem Sofa liege, schäme ich mich nicht fürs nichts tun sondern ich weiss: ich mache eine guten Job und das es hart wird hat mir mein Arzt von anfang an gesagt“.
Ich schreibe dies so ausführlich weil mich das fast einstündige Telefonat mit ihm sehr beindruckt hat und ich finde das passt zur inneren Freiheit.
Lieben Gruß
Jörn
PS. Wer Rechtschreibfehler findet darf sie behalten. Wer alle findet darf sich den Titel orthografischer Held geben 😉
Lecker. Wo gibt es diese Käsewürfel?
Lieber Jürgen,
wie immer hat mich Dein Blogbeitrag, wie auch die Beiträge Deiner Kolleg*innen, sehr berührt. Das mag ein wenig abgenutzt klingen, mir fiel jedoch kein anderes Wort ein. Wie viele Beiträge, Artikel, Bücher… lese ich täglich, und oftmals zieht das Gelesene vorbei. Eure Beiträge gehören zu denen, bei denen ich aus tiefster Seele schreie: Ja, genau!
Natürlich schreie ich das nicht wirklich – und da sind sie schon, die inneren Gefängnismauern. Denn in der Küche sitzt mein elfjähriger Sohn, ich habe keine Lust, ihm stundenlang zu erklären, warum ich jetzt schreie. (Er liebt lange Erklärungen und bohrendes Nachfragen ;-)). Vermutlich würde er mich eh für verrückt halten, wenn ich das täte. Die nächste Mauer! Nach längerem Nachdenken fällt mir auf, dass es ja vielleicht etwas lösen würde, wenn ich tatsächlich schreien und ihm meine Gefühle und Gedanken dazu erzählen würde… das kann doch nicht so schwer sein, einem Elfjährigen eine unbändige innere Freude zu beschreiben. Ich tue es trotzdem nicht. Erstens ist der magische Moment schon vorbei – und zweitens treffe ich die bewusste Entscheidung, es nicht zu tun. Er muss in drei Minuten los zur Schule, ich habe auch sehr viel zu tun. Verschoben auf später, auf die nächste Situation, in der es passt. Ehrlich!!
Und ist das nicht auch ok – und vielleicht sogar ein Klebstoff unseres Zusammenlebens? Die Machbarkeit, die momentane Situation zu berücksichtigen? Je mehr ich versuche, in die innere Haltung der GfK „hineinzuwachsen“, desto spontaner kommen die ehrlichen Reaktionen – und eben auch die, die inneren Mauern mal für einen Moment bewusst zu akzeptieren. Auch wenn GfK-ler*innen das manchmal nicht gerne hören – es geht nicht immer alles auf einmal 😉 !
Vielleicht ein etwas gefährlicher Weg, ich weiß: Eine bewusste Entscheidung zu treffen für das, was gerade „einfacher“ ist, und mir dann sagen, das ist ja auch ok so. Vorsicht, sparsam einsetzen! Und jedes Mal reflektieren: Kannst du das nächstes Mal anders machen? Ein riesiges Übungsfeld!
An dieser Stelle einmal vielen lieben Dank für diesen inspirierenden Blog!!!
Liebe Grüße, Silke
Lieber Jürgen,
sehr vertraut sind mir alle Situationen, welche du bzgl. der inneren Freiheit beschreibst. Und ich kann mit großer Freude berichten, dass ich sie alle megrfach durchhabe. Sogar das Kündigen eines Jobs, ohne einen neuen zu haben – meiner Gesundheit und Freiheit zuliebe. Und es war eine gute Entscheidung, die ich wieder so treffen würde.
Ich stelle bei mir auch fest, mit zunehmendem Alter immer weniger Wert auf das, was andere denken, zu legen, „es“ einfach zu tun, meinem Impuls zu folgen.
Interessant finde ich vor diesem Hintergrrund, wie ich mich beim Probieren eines Käsewürfels ohne Kaufabsicht immer wieder dabei ertappe, erst mein schlechtes Gewissen im inneren Dialog beruhigen zu müssen, bevor ich es mit Genuss verspeise 🙂 Hier gibt es noch ein Übungsfeld für Selbstempathie…
Herzlich, Sabine