Nimm’s locker: NICHTS ist unter Kontrolle….
Ein Satz der schon lange populär ist und auf Social Media die Runde macht. Auf Englisch lautet er: Relax! Nothing is under control.
Bisher hatte er keine besondere Bedeutung für mich, ein lustiger Spruch eben…
Hahaha, wie könnte man sich entspannten, wenn nichts unter Kontrolle ist? Wenn Chaos droht? Wenn ich keinen Plan und keine Vorhersehbarkeit habe?
Seit letzter Woche ist das anders. Etwas ist in mir passiert.
Auslöser war eine Woche mit Robert Krzisnik, einem guten Freund und Trainer der Gewaltfreien Kommunikation, der auf seine sehr persönliche, kraftvolle Art und Weise zum Kontakt mit sich selbst und dem Leben einlädt.
„Landing Fully into Life“ war der Titel des 5-tägigen Retreats, also “Voll im Leben landen”. Und darum ging es. Voll im Leben, voll bei sich anzukommen, und das auf viele Arten und Weisen zu erleben und zu erspüren.
Und da sind wir beim Thema „Nichts ist unter Kontrolle“. Gegen Ende des Retreats haben wir uns mit der Tatsache beschäftigt, dass im Leben tatsächlich nichts unter Kontrolle ist. Alles ist in jeder Sekunde neu und unbekannt und nicht planbar. Natürlich mache ich meine Pläne, und oft genug treten sie auch ein. Oft genug aber eben auch nicht. Und ob die Dinge so passieren, wie ich es gerne hätte und geplant habe, weiß ich vorher nicht. Niemals.
Das ist krass! Es scheint mir offensichtlich und gleichzeitig ist es krass, wenn ich diese Erkenntnis voll und ganz zulasse und mich in sie fallen lasse.
Am letzten Tag des Retreats haben wir uns intensiv mit dieser Unvorhersehbarkeit beschäftigt. Die Einladung und Frage in unseren Dyaden und Prozessen war immer wieder: „Relaxing into the unknown, what moves through you“. Zu Deutsch: „Wenn du dich in das Unbekannte entspannst, was bewegt sich in dir?“
Was mich dabei erstmalig so fundamental bewegt hat, ist die Kombination von zwei Begriffen, die für mich vorher wie Feuer und Wasser waren:
„Das Unbekannte“ und „Entspannen“
Wie? Hä? Nein, so geht das nicht! Ich entspanne mich grundsätzlich nicht, wenn unbekannte, unplanbare, unkontrollierbare Dinge auf mich zukommen. Im Gegenteil, da spanne ich mich an, da bekomme ich Angst. Ich entspanne mich, wenn alles unter Kontrolle ist, wenn ich alles im Blick habe, wenn alles „sicher“ ist. Beziehungsweise wenn alles sicher „erscheint“, sollte ich richtigerweise schreiben…
So, und jetzt kommt hier zunächst mal die etwas unbequeme Erkenntnis um die Ecke: Sicherheit, Planbarkeit, Kontrolle etc. sind einfach nur eine Illusion. Sie kommen in der Welt nicht vor. Ich kann vielleicht ein relatives Gefühl der Sicherheit haben, den Eindruck haben, die Dinge seien unter Kontrolle und ich könne vorhersehen was passiert. Mehr nicht. Ich kann Maßnahmen treffen um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass bestimmte Dinge passieren. Kontrolle über das Leben habe ich allerdings nicht.
Und dann ist für mich das Undenkbare passiert: Durch diese Einladung, diese Inspiration, den Blickwinkel zu ändern, es nicht als „Problem“ oder „Gefahr“ zu sehen, dass im Leben in jeder Sekunde alles neu ist und ich nie vorhersehen kann, was als nächstes passiert, sondern anzunehmen, dass dies die völlig normale Mechanik der Welt ist, entstand eine Weite, Leichtigkeit, Offenheit und Neugier, die ich in dieser Intensität noch nicht erlebt hatte.
Was, wenn ein entspanntes Vertrauen mein „Normalmodus“ wäre? Wenn ich in jedem Augenblick voll kindlicher Faszination nach vorne schaue und mich überraschen lasse, von dem was das Leben mir als nächstes präsentiert? Wie ein riesiges Buffet mit Süßigkeiten, und ich weiß nie, was als nächstes kommt.
Und ja, nicht alle von diesen „Süßigkeiten“ schmecken gleich gut. Manche sind sogar ziemlich bitter. Von manchen kriege ich sogar Magenschmerzen oder werde krank. Auch das gehört zum großen Spiel….. Whow, plötzlich wird die Welt zu einem Rummelplatz der Möglichkeiten, ein unendliches Spielfeld.
Ich kann mir vorstellen, dass dir beim Lesen eine Menge „ja abers“ durch den Kopf gehen: Alles schön und gut, aber lustig in den Tag leben, von der Hand in den Mund, ohne Plan und Ziel wird nicht funktionieren. Ist nicht realistisch. Pläne müssen gemacht werden, Miete muss gezahlt werden, Kinder müssen versorgt werden. Es gibt Termine, Verpflichtung und später brauche ich mal eine Rente…. Und so weiter, und so fort.
All diese Gedanken habe ich auch. Und für mich stehen sie gar nicht im Widerspruch. Natürlich plane ich, natürliche tue ich die Dinge, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es mir auch morgen noch gut gehen wird.
Die für mich spannende Frage ist: Kann ich all das mit wesentlich mehr Leichtigkeit und weniger Angst tun? Kann ich all meine Pläne und Vorhaben als „Bitten an das Leben“ sehen, in dem Bewusstsein, dass einige davon erfüllt werden und andere nicht?
Das wünsche ich mir sehr.
Ich spüre jetzt gerade sehr stark das Potential der Entspannung für mich.
Ich fange bei den kleinen, alltäglichen Dingen an:
- Den Bus verpasst
- Zu spät zum Termin gekommen
- Das Wetter ist „schlecht“
- Iris ist nicht „nett“ zu mir
- Der Hund hat auf’s Sofa gekotzt
- Eine schwierige E-Mail die mich nervt
- Ein Freund, der sich nicht an eine Abmachung hält
- …….
DAS sind ein paar der Dinge, die mir den Tag vermiesen können. Weil ich es mir anders gewünscht habe. Weil ich dagegen bin. Weil die Welt eben NICHT so reagiert wie ich will. Hier glaube ich steckt ein unendliches Potential der Entspannung. Hah! Und jetzt fällt mir auch wieder ein, was ich viel viel zuverlässiger und effektiver kontrollieren kann als die Welt und die Menschen um mich herum:
Meine innere Reaktion auf die Welt und die Menschen um mich herum!!
Ist das nicht geil?! Da schließt sich für mich der Kreis. Die Welt um mich herum entzieht sich weitgehend meiner Kontrolle. Aber MEINE Innenwelt, meinen Zustand, meine Blickrichtung, meine Überzeugungen und meine Reaktionen auf die Welt kann ich sehr stark beeinflussen und wählen. Whow!
Ich habe fest vor mich so oft ich kann daran zu erinnern: Relax! Nothing is under control!
Inspirierte Grüße
Jürgen
P.S. Aus meiner aktuellen Freude am Unbekannten: Ich bin so neugierig was passiert, wenn du diesen Artikel liest. Was löst es in dir aus? Was wird da lebendig? Was geht dir durch den Kopf? Angenehmes, Unangenehmes, Zustimmung, Widerstand, alles davon….
Magst du etwas davon hier im Blog teilen? Das wäre mir eine große Freude!
Hi Jürgen,
der Artikel berührt mich sehr, weil mir beim Lesen so sehr bewusst wird, was ich mir für mein Leben und meine Haltung so sehr wünsche und warum ich so oft Bauchschmerzen und angespannte Gliedmaßen habe – weil ich immer sehr viel kontrollieren will und hohe/unrealistische Erwartungen an mich und meine Mitmenschen habe.
Mich ins Unbekannte entspannen. Das will ich üben!
Danke für den Artikel und herzliche Grüße
Vielen lieben Dank Jürgen,
für den Satz
Ins unbekannte entspannen.
Danke für diesen Beitrag!
Ich musste in den vergangen Tagen immer wieder darüber nachdenken, über die Illusion der Kontrolle.
Wenn ich mich innerlich anspanne, wütend werde, gereizt oder verärgert reagiere, dann sind das hilfreiche Alarmsignale, die mich darauf hinweisen wollen, dass der Plan in meinem Kopf gerade nicht mit der Realität deckungsgleich ist.
Ich wünsche mir für die Zukunft die Realität mehr annehmen zu können und mit Freude die unvorhersehbaren Abbiegungen des Lebens wertzuschätzen.
Hallo Jürgen
Dein Impuls „nothing under controll“ hat mich inspiriert und gefällt mir.
Ich erlebe das Vertrauen und Sich-Überraschen-lassen immer öfter in meinem Leben und kann es geniessen mich von dem Unerwearteten und Ungeplanten überraschen zu lassen und gleichzeitig einen groben Plan vom Heute zu erstellen. Mit zunehmenden Alter erlebe ich vieles entspannter und kann mich zurücklehnen und sagen wie die Kölner es treffend auf dem Punkt bringen
„Et kütt, wie et kütt.“
„Et hätt noch immer jot jejange“
Es gibt einen schönes Kurzgedicht von Hilde Domin, das mir als Leitmotiv geworden ist.
„Nicht müde werden
sondern dem Leben
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.“
Die Wunder eines jeden Tages entdecken und dankbar sein für das was sich zeigt.
Danke für deine authenisches Erfahurng zu dem Thema Kontrolle versus Vertrauen.
Georg
Hey Jürgen, ich finds voll cool. Ich kenne die Haltung von Michael A Singer, „Experiment Hingabe“ ist sein Buch dazu. Wenn ich es wirklich, wirklich hinkriege, diesen Moment einfach nur mit Neugier zu betrachten und nichts bestimmtes zu wollen, fühlt sich das Leben richtig geil an.
Lieber Jürgen
ich habe Snoooy und Woodstock als Sperrbildschirm aufs Händi gepackt.
Als Ankerpunkt mich dran zu erinnern im hier und jetzt zu sein.
Kann ich all meine Pläne als Bitten an das Leben sehen, in dem Bewußtsein, daß einige davon erfüllt werden und andere nicht?
Bitte statt Forderung… Das hat mich einst zu Beginn der GFK Ausbildung zu Tränen herausgefordert.
Vielen Dank für die Gedanken Impulse mal wieder dahin zu spüren.
Hallo Jürgen,
dein Text hat mich sehr berührt, weil er genau das spiegelt, was ich im Augenblick in meinem Leben erfahren darf.. Da ist eine Begegnung, die plötzlich eine neue Qualität bekommt. Da ist eine Postkarte im Briefkasten, die mich so tief berührt, dass ich Tränen in den Augen habe, Tränen des Glücks und der Dankbarkeit. . Da sind Augenblicke, die mich früher genervt hätten und die ich jetzt mit Gelassenheit annehme, ihnen zulächle und sie weiterziehen lasse. Diese Gelassenheit habe ich aus meinem Wüstenretreat mitgebracht und sie hält unvorhergesehen an. Das Leben macht uns so viele Geschenke, die wir dankbar annehmen dürfen. Ich wünsche dir noch viele unvorhergesehene Augenblicke und grüße herzlich
Martina
Lieber Jürgen,
was geht mir beim Lesen durch den Kopf…
Es ist wahnsinnig viel los bei mir. Entscheidungen stehen an bzw. der Mut muss groß genug sein für diese. Oder eben nicht. Ich spüre grad dass ich anstelle von Mut einfach das Vertrauen brauche, Vertrauen in mich, in dass das was kommt positiv und aufregend sein kann.
Meine (so gut wie erwachsenen) Kinder entsprechen nicht dem normalen Schul/Ausbildungssystem. Nichts nach Plan.
Aber ich versuche es (inzwischen) locker zu nehmen und vertraue auf das Leben, versuche Mut zu machen, die vielen Möglichkeiten des Lebens aufzuzeigen (auch mir) und spüre: nimms locker – es lässt sich auch nichts forcieren.
Und noch ein Punkt: Enttäuschung oder Stress dass was nicht nach Plan läuft, hat derzeit sehr viel mit den (vermeintlichen?) Erwartungen anderer zu tun – also vergiß das und versuch es mit Entspannung.
Danke für die Inspirationen – wow.
Herzliche Grüße
Ulrike
Hallo Jürgen! Meine Erfahrung ist, dass immer mehr Türen zu Vertrauen und Annahme sich öffnen, je mehr ich alte Verletzungen geheilt habe. D. h. Je mehr ich die alten verdrängte Gefühle annehmen und dasein lassen kann. Die tiefen Sehnsüchte in ihrer Schönheit und Energie erkenne. Dann kommt immer mehr Offenheit für das Leben und den Moment. Vertrauen darein, daß ich einen Weg finden werde mit dem was kommt. Liebe Grüße von Silvia
Da habe ich unvorhergesehen Lust zu schreiben. Ich hatte mal 1/2 Jahr frühzeitig eine Wohnung gekündigt (2006), um die Stadt voll zu verlassen und irgendwo weiter weg zu fliegen, mich herausfordern für längere Zeit. Uff da ging’s rauf und runter mit Gedanken und entsprechenden Gefühlen. Bis mir die Idee kam: “ Das ist doch Abenteuer pur, was ich freiwillig für mich gewählt habe.“ Ha, da kam bei mir das Vertrauen mit Entspannung gewürzt. Das Abenteuer war dann auch ein echtes längerandauerndes Abenteuer, bei weitem die Entspannung herausfordernd, jedoch wo wäre ich heute mit mir, wenn ich es nicht so benannt hätte und nicht dabei geblieben wäre.
Ansonsten übe ich mich heute immer wieder neu, das Leben als Fluß anzunehmen, der ja erstmal auch nicht weiß wo er hinfließt und ankommt und sich ausbreitet/weitet. aloha sigrid
Ja, genau das ist auch Yoga im Alltag, annehmen was ist und vertrauen, dass das Universum, das bereit hält, was mir gut tut, auch wenn es sich mir nicht sofort erschließt… Ich glaube, es ist Übungssache, entspannte Achtsamkeit… lieben Gruß, Yasemin
Lieber Jürgen, gerade sitze ich hier mit einem breiten Lächeln und einem weiten Gefühl im Herzen und nehme gerne diese Anregung an.
Hallöchen Jürgen. Wir kennen uns noch als du in Hanau bei Lebens Gestaltung Supervisor warst. In der Theorie weiß ich natürlich was du in deinem Blog geschrieben hast. Integrieren ist noch eine andere Sache. Jedenfalls laufe ich hier mit meinem Sohn im Kinderwagen durch den Wald und lese deinen Blog. Ich freue mich darüber wieder an diesen einfachen Zusammenhang erinnert zu werden, weil es mir in letzter Zeit schwer fiel diese Gelassenheit zu empfinden. Jedenfalls läuft gleich nach dem Lesen deiner Nachricht ein Reh über den Waldweg keine 20 m von uns entfernt. Das war für mich natürlich die absolute Bestätigung, dass das meiste Unvorhersehbare auch etwas Schönes ist. +ganz schön geflasht+ Grüße Stefan Amann
Lieber Jürgen, das hast Du echt einfach und rund sowie exakt auf den Punkt geschrieben. Wir scheinen sehr ähnlich zu ticken und Deine „neuen“ Sichten sind eine „echte Bereicherung“, i.S.v. Impulsen, für mich und mein Leben. Ein herzliches Dankeschön an Deine Adresse … 🙂