„Negative“ Gefühle gibt’s nicht! Oder doch…? 🤔
Gerade gestern hab‘ ich mal wieder einer kleinen Gruppe in Frankfurt das Thema Gefühle und Bedürfnisse näher gebracht. Wie immer sammle ich die Gefühle am Flipchart: Die eher unangenehmen in rot auf einer Seite: müde, traurig, ängstlich, ärgerlich, unsicher u.s.w. Die angenehmen in Grün auf der anderen Seite: glücklich, entspannt, wach, inspiriert u.s.w.
Wie meistens kam aus der Gruppe die Bezeichnung „positive“ und „negative“ Gefühle für die beiden Kategorien.
Wie immer habe ich erklärt, warum ich sie nicht so nennen möchte. Das bewerten der Gefühle auf diese Art hat eine Wirkung. Die einen sind „gut“ sind in Ordnung, wünschenswert, die anderen nicht. Sie sind „negativ“ und müssen möglichst bald beseitigt werden.
Nach ein wenig Beschäftigung mit Gefühlen leuchtet es den Meisten ein, dass alle Gefühle wichtig sind. Gleichwertig und gleich wichtig. Die „roten“ sind insofern wichtig, als dass sie uns ein Signal geben, dass das ein oder andere Bedürfnis gerade unerfüllt ist. Welches das ist, müssen wir dann noch selbst heraus finden. Das ist nicht immer so einfach.
Und direkt heute morgen ist es wieder passiert: Ich habe mich nicht „gut“ gefühlt. Irgendwie müde, bedrückt, mit so einem leichten Knoten in der Magengegend. Melancholisch und ein bischen traurig. Und auch wenn mir so klar ist, dass diese Gefühle wichtig sind und zu mir gehören, stellt sich wie so oft augenblicklich ein Widerstand ein: Aaaaaaah! Ich mag‘ mich nicht so fühlen. Das fühlt sich nicht gut an, ist anstrengend und sofort habe ich nicht so richtig Lust auf den Tag. Und schon gar nicht auf die Arbeit. Am Rechner sitzen, die überlange To-Do Liste anschauen. Pfffff.
Und natürlich stimmt irgend etwas nicht mit mir, wenn ich solche „negative“ Gefühle habe. Das ist immer noch tief in meinem Unterbewusstsein abgespeichert. Ich kann meinen Widerstand gegen diese Gefühle körperlich wahr nehmen. Und den Drang mich abzulenken. Das muss weg. Solange ich mich so fühle, ist etwas nicht in Ordnung. Und das muss „repariert“ werden…
Glücklicherweise haben wir am morgen ein „Check-In“ mit dem KLARWEIT Team, wo wir alle teilen, wie es uns geht. Ich fühle mich da sicher, weil ich weiss, dass es OK ist, zu teilen, dass ich nicht so gut drauf bin. Niemand verurteilt mich dafür. Und es tut gut, es auszusprechen. Das ist ein Anfang.
Trotzdem begleiten mich diese Gefühle den Rest des Tages. Und ich vergesse (mal wieder) den besten Rat, den ich damals von meinem Lehrer, Robert Gonzales, zu diesen Gefühlen bekommen habe: „Sit with it!“. Also: Sitz damit!
Was hat er damit gemeint? Gib‘ diesen Gefühlen Aufmerksamkeit. Nicht ein bischen, mal kurz und nebenbei. Nein, setz‘ dich hin, und gib‘ den Gefühlen und Wahrnehmungen in dir deine volle Aufmerksamkeit.
Behandle sie wie etwas wirklich wichtiges, denn das sind sie.
Bis heute ist das eine der schwersten Übungen für mich. Es klingt unheimlich simpel und ist eine immense mentale und emotionale Herausforderung. Wenn ich mich wirklich in Ruhe hin setze und mich NICHT ablenke. Als NICHTS tue (etwas das mich sowiso schon länger fasziniert… 😉 dann bekommen diese Gefühle und Wahrnehmungen wirklich Raum. Und ich kann beobachten, wie ich innerlich nervös werde. Das ist die Angst vor diesen Gefühlen. Kennst du diese Angst? Sie kann subtil sein oder auch richtig stark. In jedem Fall gibt es in mir ein sehr starkes, seit der Kindheit eingeübtes Muster, mich mit allen Mitteln der Kunst von diesen Gefühlen abzulenken. Das absolut LETZTE was ich gelernt habe, ist mich still hin zu setzen und mich auch noch direkt darauf zu konzentrieren.
Und genau DAS ist in meiner Erfahrung das Beste, was du tun kannst. Achtung: Es bedeutet nicht diese Gefühle „anzustarren“, damit meine ich innerlich einzufrieren und völlig fixiert zu sein auf eine Wahrnehmung. Nein, einfach entspannt da sitzen und beobachten was sich in mir bewegt. Und es bewegt sich. Die Gefühle sind nicht statisch. Und das magische ist: Wenn ich es schaffe lange genug zu sitzen, da braucht es meist keine Stunden, selbst 10 bis 15 Minuten sind da schon richtig viel, dann verändert es sich in mir.
Von elementarer Bedeutung ist dabei, mich nicht in meinen inneren „Geschichten“ zu verfangen. Wenn mein Kopf anfängt Geschichten zu erzählen, über die Trauer, die Zukunft, warum alles so schrecklich ist und nicht besser wird, dann bin ich in einer Schleife des Leidens. Das kann ich dann unbegrenzt fortsetzen und mich damit Quälen. Es ist wichtig das zu bemerken und meinen inneren Erzähler an die Leine zu legen. Und ja, das ist nicht immer so einfach.
Wenn ich einfach mit meinem Gefühle sein kann, wird es bald weicher, wärmer und die Trauer oder was auch immer gerade in mir da ist, wird zu einer Art warmem Bad. Sie hat etwas heilsames, geradezu beruhigendes. Auch jetzt, während ich schreibe, ist sie noch da. Dabei fühle ich mich ziemlich präsent, mit mir verbunden. Es ist ein besonderes Gefühl oder Zustand. Und ganz sicher nicht „negativ“. „Enjoy the pain“ hat Marshall Rosenberg mal gesagt, und vielleicht hat er das damit gemeint.
Was funktioniert für dich, wenn du dich nicht gut fühlst? Lenkst du dich ab, oder hast du einen Weg mit diesen Gefühlen zu sein? Hast du es schon mal probiert, einfach damit zu sitzen? Was sind deine Erfahrungen?
Neugierige Grüße
Jürgen
Danke für diesen Text, das fühlt sich für mich sehr stimmig an. Ich lerne gerade, mich mit allen Gefühlen als richtig zu begreifen und mir so alle Gefühle zu erlauben. Erlaubnis geben ist für mich dabei der Schlüssel.
Hallo Jürgen,
Danke fürs Teilen!
Just sit with it – Hab mich heute einfach zu meinem Papa ans Bett gesetzt, weil es ihm nicht gut ging und ihm die Hände gehalten. Davor hab ich alles getan, was Sinn gemacht hat, von Mittel gegen Mundtrockenheit bis mit meiner Mama ein YouTube Video wie man Inkontinenzeinlagen richtig anzieht. Und dann, bin ich einfach bei ihm gesessen und hab – nichts getan. Hab gespürt, was in mir los was. Und war einfach da.
Danke also von Herzen.
Und ich feiere wie immer alles zum richtigen Zeitpunkt da ist.
Hier noch ein passendes Zitat zu meinem Beitrag:
You are the sky. Everything else is just the weather.
PEMA CHÖDRÖN
entnommen von: “word for the day” von http://www.gratefulness.org
Guten Morgen allerseits; vielen Dank Jürgen für Deinen Beitrag und Deine Offenheit.
Für mich ist schmal wichtig, die Gefühle sind in mir und kein anderer ist der Verursacher. Mir scheint es auch so zu sein, dass als Erstes die Gefühle auftreten und das Gedankenkarusell erst danach Fahrt aufnimmt.
Mir hilft es, wenn ich aus einem Abstand das Theater aus Gefühlen und Gedanken betrachten kann. Ich bin weder das Gefühl, noch bin ich meine Gedanken. Und meist dauert es nicht lang und es ändert sich wieder. Mein wahres selbst, das, was mich eigentlich ausmacht, bleibt davon unberührt. Manchmal bin ich ein größerer Narr als sonst. Dann gehe ich in Widerstand zu inneren Zuständen, die ich nicht mag. Das ist Leiden und es führt eher dazu, den ungeliebten Zustand zu verlängern. Wenn ich daraus lerne, ist es auch zu etwas gut.
PS: auch ich erlebte heute früh Misslaunigkeit und mit schön nichts recht zu sein. Kommt vor. Geht wieder.
Danke für den Text.
Leider – so viele, leider auch Berater und Coaches, arbeiten mit dem Wort „negative“ Gefühle. Und manche mit der Idsee und dem „Versprechen“: „ich mach Dir das weg – bzw. so machst Du Dir das weg“.
Maja Storch nennt das die Wurmwürgung.
Die Alternative, wie Du beschreibst: wahrnehmen, ernstnehmen, „zuhören“…
Ich unterscheide jedoch zwischen funktionalem und dysfunktionalem Gefühlserleben, bei dem dann Gedanken, Glaubenssätze (mit ihren Gefühlsverbindungen) und Verhaltensmuster den Gefühlsausdruck „steuern“.
Dann wird aus Freude („die Glut, die dem Sein innewohnt“, Fromm) evtl Klammern oder Fanatismus, anstelle von angemessener Grenzziehung tritt dann Wut, Zerstörung oder Empörung etc.
Grüße von Walter, der gerade über Deine Worte schmunzelt und sich freut.
Hallo Jürgen, schöner Artikel! Danke für das Teilen. Und Deinen Mut, Dich hier so offen und verletzlich zu zeigen. Ich kann Deine Erfahrungen nur bestätigen. Manchmal schaffe ich es auch in die Medititation zu gehen und zu sitzen und dann läuft es so ähnlich ab wie bei Dir. Manchmal gelingt es mir aber auch nicht, weil die Gefühle zu stark sind. Zu überwältigend. Was mir in jedem Fall immer hilft ist der Austausch mit Gleichgesinnten. Dann empathisch gehört zu werden ist ein göttliches Geschenk und dann transformiert sich aus meiner Erfahrung schon oft mehr als 50% der negativen Gefühle. In jedem Falle heisst es dran bleiben! Danke nochmal! LG Uwe
Lieber Jürgen, vielen Dank fürs Teilen deiner Gedanken und Gefühle.
Mir gelingt manchmal in solchen Situationen, in die Selbstempathie zu gehen. Gedanklich oder auch real umarme ich mich dann selbst. Ich „halte“ mich und biete mir Schutz und Geborgenheit. Das empfinde ich als entlastend und ich komme in eine Weichheit, bei der es mir eher möglich ist, aus dem Gedankenkarussell auszusteigen. Manchmal spreche ich mich dabei auch (laut) selbst mit Namen an, dann gelingt es mir leichter.
In so einem Moment fühle ich mich dann sehr verbunden mit mir selbst.
Herzliche Grüße Anja
Hallo Jurgen, danke für Deinen Artikel und die Offenheit. Ich bin auch zu dem Erkenntnis gekommen, dass „negative“ Gefühle gibt es nicht. Und jedes Gefühl ist Wegweiser zu mir selbst und meinen Bedürfnissen. Und die Gefühle haben enorme bewegende Kraft, die mich aus meinen recht starrem Selbstbild befreien können
Die Gefühle sind für mich nicht nur wichtig, sondern lebensnotwendig.☺️
Lieber Jürgen,
Da ich vor ein paar Tagen etwas erlebt habe, was landläufig als Schicksalsschlag bezeichnet wird und ich vor allem mit Trauer (nebenbei) und Ablenkung (aktiv) beschäftigt bin, inspiriert mich Dein Beitrag, meiner Trauer mehr aufmerksamen Raum zu geben. Das ist sehr sinnvoll! Vielen Dank dafür!