Den Kampf im Kopf klären

Die Arbeit mit den inneren Anteilen über IFS – Internal Family Systems fasziniert mich zunehmend mehr, und meine aktuellste Entdeckung zweier sehr relevanter Teile in mir, möchte ich heute beschreiben.
Iris und ich haben gerade ein verlängertes Wochenende zusammen in einer wunderschönen Unterkunft im Grünen, völlig ohne die Geräusche der Stadt, verbracht. Es gab sehr viel Zeit zum Entspannen, Spüren, Pausieren, Verlangsamen und Genießen. Eine intensive Zeit der Reflexion und des tiefen Kontakts mit unseren Sehnsüchten und Bedürfnissen.
Wir sind in einem so präsenten und verlangsamten Zustand heimgekommen wie sonst nur nach der Teilnahme an langen, intensiven Retreats der Selbsterfahrung. Dann kam der erste Arbeitstag, und ich spürte einen großen inneren Widerstand, mich wieder an den Rechner zu setzen, schnell zu sein und zu „funktionieren“.
Ganz spontan und organisch hat Iris mich in einen tiefen Kontakt mit zweien meiner Anteile geführt, der zu einer dramatischen Erkenntnis über eine lebenslange, innere Dynamik in mir geführt hat.
Der Peitschenschwinger

Zunächst tauchte ein innerer Antreiber auf, den ich „den Peitschenschwinger“ nannte. Es ist ein Anteil, der mich sehr hart antreibt und diszipliniert. Er sorgt dafür, dass ich meine Arbeit mache, auch wenn ich keine Lust habe oder sie anstrengend oder langweilig ist. Das ist eine gute Sache. Leider arbeite ich für ihn niemals genug und auch nicht „gut genug“. Ich mache zu viel Pause, bin uneffektiv, faul, bequem und extrem genuss-süchtig.
Ich weiß auch, dass er den kleinen Jungen in mir schützt, der schon als Kind wusste, „nicht gut genug“ zu sein und die Gefühle, die mit Kritik und Abwertung einhergingen, nicht ertragen konnte. Die gute Sache ist, dass dieser Anteil für fast alle Errungenschaften und Leistungen in meinem Leben verantwortlich ist. Der Nachteil ist, dass er extrem hart, unempathisch und abwertend auftritt.
Der Chiller
Und an diesem Morgen, sicherlich wegen des vergangenen Wochenendes, war ein anderer Teil sehr präsent, den ich „den Chiller“ nannte. Das ist einer, der einfach IMMER nur „chillen“, also ausruhen, entspannen und genießen will.

Der Chiller ist SEHR, SEHR müde, und will sich immer nur entspannen. Am liebsten mag er nie wieder arbeiten oder überhaupt irgendetwas „müssen“. Er mag im Liegestuhl liegen, Musik hören, viel essen und trinken (vor allem ungesunde Sachen), in die Sauna gehen oder alles, was nicht anstrengend ist und sich gut anfühlt. Er mag auch langsam sein dürfen, seinen eigenen Rhythmus verfolgen, der viel langsamer als das Tempo der restlichen Welt ist.
Auf gar keinen Fall will er die Straße kehren, den Rasen mähen, einkaufen oder andere Erledigungen übernehmen – schon gar nicht in der Freizeit. Er findet fast alles andere anstrengend und hat NIE genug Zeit und Raum für Entspannung und Leichtigkeit. So richtig tief entspannen fällt ihm trotzdem schwer, weil der Peitschenschwinger ständig seinen Frieden stört und ihn an die nie endende „to-do-Liste“ erinnert.
Der innere Krieg
Soweit, so unspektakulär. Eine Idee dieser Teile hatte ich vorher auch, und mir ist bewusst, dass die meisten Menschen ähnliche Anteile und innere Dynamiken haben und kennen. Was mich tief getroffen und bewegt hat, war der liebevolle Kontakt mit beiden Anteilen und die Erkenntnis, dass beide praktisch nie miteinander kommunizieren, gleichzeitig aber schon mein ganzes Leben in einem dauerhaften, nahezu kriegsähnlichen Konflikt stehen.

Sie arbeiten grundsätzlich gegeneinander, und keiner hat eine Ahnung – geschweige denn ein Gefühl oder gar Mitgefühl – für die Wünsche und Bedürfnisse des anderen. Sie tragen eine dauerhafte Spannung miteinander aus, und mal gewinnt der eine, mal der andere.
Es war klar, dass 90 % meiner gesamten Energie nur für den Konflikt der beiden verschwendet werden. Mit den restlichen 10 % war ich in der Lage, mein Leben so zu leben und zu meistern, wie ich es bisher getan habe – was ich allein ziemlich bewegend und beeindruckend fand.
Tränen, Mitgefühl und ein Versprechen
Als ich die beiden liebevoll hören und verstehen konnte, flossen tief von Herzen gefühlte Tränen der Erleichterung – des Mitgefühls für den Schmerz und die Anstrengung vieler Jahrzehnte. Es war ein immens befreiendes und berührendes Gefühl und hielt lange an.

Es war absolut erstaunlich, wie schnell die beiden sich vertrauensvoll gezeigt und mitgeteilt haben – nach so vielen Jahren des Kampfes und der Ignoranz meinerseits. Beide haben keinen sehnlicheren Wunsch, als diesen Kampf und die Mühe aufzugeben und ihre schwere Aufgabe an mich, also mein „erwachsenes Selbst“, abzugeben. Beide sind sehr jung und für ihre Aufgaben absolut nicht ausgerüstet.
Ich habe ihnen nun versprochen, dauerhaft mit beiden liebevoll im Kontakt zu bleiben und regelmäßig zu spüren und zu prüfen, wer von welchen gerade etwas braucht oder mir etwas mitteilen will. Sie scheinen sehr offen für Kooperation zu sein, solange sie sicher sein können, gehört und verstanden zu werden.
Ich bin extrem inspiriert von diesem Kontakt und der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der er entstanden ist – und natürlich hochgespannt, wie sich diese neue Verbindung auf mein Leben auswirken wird. Ich werde sicher darüber berichten … 😊
Kennst du auch solche Anteile in dir? Wie erlebst du diese?
Behält einer die Oberhand? Streiten sie sich? Kannst du sie empathisch hören und verstehen?
Ich freue mich über Austausch, Fragen und Rückmeldungen.
Herzlich
Jürgen
Du möchtest dich selbst auch auf diese Art und Weise kennen lernen und den inneren Kampf klären? Noch 2x in diesem Jahr hast du die Möglichkeit mit mir auf eine tiefe Reise zu dir, deinen Gefühlen, Bedürfnissen und inneren Anteilen zu gehen. Meine Living Compassion Retreats, sowohl im April als auch im August werden durch das IFS Modell der Inneren Anteile zunehmend bereichert und vertieft:
Der Beitrag hat mich sehr berührt, besonders der Aspekt des inneren Konflikts zwischen dem Peitschenschwinger und dem Chiller. Ich konnte mich gut mit der Situation identifizieren, als wir vor einiger Zeit die Entscheidung trafen, ausländische Ingenieure für unser Unternehmen einzustellen. Es war ein Kampf im Kopf, weil wir uns unsicher waren, wie gut diese Entscheidung langfristig für uns und das Team sein würde. Am Ende war es aber eine der besten Entscheidungen, die wir getroffen haben. Es hat unser Unternehmen bereichert und uns geholfen, neue Perspektiven zu gewinnen. Es ist faszinierend, wie der Beitrag zeigt, wie wichtig es ist, die inneren Konflikte zu erkennen und zu klären, um mit sich selbst in Einklang zu kommen.
Lieber Jürgen!
Ich kenne dieses Dilemma, den „Kampf“ dieser beiden Anteile, ebenfalls sehr gut.
Das Schlimme ist dann manchmal sogar, wenn ich keinen der beiden befriede, sondern – gerade erst letzte Woche Dienstag geschehen – in eine Art Starre gerate und sinnlos Zeit verplempere. Das hinterlässt unfassbaren Frust bei beiden Anteilen. Hintergrund war, dass die Chillerin in mir laut rief, die Peitschenschwingerin sich ihr jedoch unerbittlich in den Weg stellte, so dass ich am Ende des Tages frustriert zurückblickte auf ein paar Stunden unnütz verbrachte Zeit am Handy. Und die Bedürfnisse Entspannung/Ausruhen bzw. Dinge auf der To-Do-Liste abarbeiten, nach wie vor offen waren.
Gesamt gesehen deutete ich bisher das Gegeneinander dieser beiden Anteile in mir als unvermeidbar in einem Leben mit vielen Interessen, Wünschen, Kontakt zu verschiedenen Menschen aus Gegenwart und Vergangenheit, sowie der Zeit mit diesem generellen unendlichen Informationsangebot, für mich einem dauerhaften „zu viel“.
Kürzlich erst zurück von einer fantastischen Mutter-Kur-Auszeit mit 3 Wochen Zeit zum Spüren, Sporteln, Ausruhen, gesundem Essen und vielem mehr weiss ich, dass es tatsächlich „zu viel“ ist, ich reduzieren möchte in meinem Leben (Menschen, die mir nicht ausschließlich gut tun; Hausrat; Kleidung; Termine; etc.).
Die beiden Anteile in einen liebevollen Kontakt bringen klingt auch gut. Wie, weiß ich gerade noch nicht – und kann leider an beiden WoE deines Angebotes nicht… So gerne ich mal wieder in Living Compassion eintauchen und mich damit verbinden möchte.
Ich habe allerdings nun noch eine weitere Richtung, in die ich agieren kann. Von dir zu wissen, dass diese Richtung Erleichterung und einen gewissen Frieden mit sich bringen kann, tut mir gut. Danke !
Herzliche Grüße, Sabine
Liebe Sabine, herzlichen Dank für deine Rückmeldung, ja, das kommt mir alles sehr bekannt vor. Insbesondere die Erfahrung aus dieser Starre und Unklarheit einfach sinnlos Zeit zu verplempern (bei mir vorzugsweise mit dem Handy) so dass dann WEDER Entspannung und Ruhe noch Effektivität erfüllt werden und beide Teile völlig frustriert sind, was ja wirklich tragisch ist. Ich kann es nur empfehlen, empathisch mit beiden in Kontakt zu treten, es ist zuweilen erstaunlich, wie schnell diese Teile sich öffnen, ihr „Problem“, bzw. Ihren „Auftrag“ offenbaren und sich dann massgeblich entspannen bzw. mit dem anderen Teil kommunizieren und kooperieren können. Ein IFS-Buch kann schon ein super Einstieg sein, insbesondere mit GFK und Living Compassion Vorerfahrung, kannst du da selbst schon ganz viel erkennen und lösen. Das Buch „Reisen in die Innenwelt“ von Tom Holmes kann ich da sehr empfehlen, oder „Kein Teil von mir ist schlecht“ von Richard Schwarz, dem IFS-Gründer.