Wertvoll sein – auch wenn niemand klatscht? So klappt’s!

Iris und ich sind seit einigen Wochen im Prozess einer höchst spannenden Selbsterforschung, die ich heute gerne mit euch teilen möchte, da sie mich und uns so bewegt und bereichert.
Auslöser war das Buch „Passionate Marriage“ von dem Paar- und Sexualtherapeuten Dr. David Schnarch, welches mir letztes Jahr bei Freunden in Dänemark in die Hände gefallen ist. Ich war sofort gefesselt von seinen Erkenntnissen und blieb an einem Kapitel über das Thema „Self Validation“, zu Deutsch in etwa „Selbstbestätigung“, auch im Sinne von Selbstwert, hängen.
Zusammengefasst sagt Schnarch, dass Paare oft ihren Selbstwert von der Zustimmung (Validierung) des anderen abhängig machen und dadurch in einen Kreislauf gegenseitiger Bestätigung geraten. Das erschwert ein eigenständiges Gefühl von Wert und Identität, weil Anerkennung ausbleibt, sobald der Partner kritisiert oder ablehnt. Er betont deshalb die Bedeutung von „Selbstbestätigung“: das innere Wissen um den eigenen Wert, unabhängig von äußerer Zustimmung. So entsteht innere Stabilität, die eine wirklich reife und tragfähige Nähe in der Beziehung ermöglicht.
Wow! Das hat gesessen. Sofort haben wir uns in der Beziehung wiedererkannt: Ja klar, wir finden uns beide ziemlich gut, und das ist wundervoll. Und das hat den schönen Nebeneffekt, dass wir uns kontinuierlich viel und oft gegenseitig wertschätzen. Wir haben sogar eine explizite Praxis daraus entwickelt: Die Wertschätzungsschleife. Die kann ich allen Paaren sehr empfehlen.
Wie schön, oder? Wo sollte also das Problem sein? Schnarch hat es für uns schmerzlich unbequem auf den Punkt gebracht: Es besteht eine starke Abhängigkeit von der Zustimmung, der Wertschätzung des anderen. Und ich weiß genau, was er meint: Sobald es eine Spannung gibt (was glücklicherweise recht selten passiert), Iris auch nur ein wenig auf Distanz geht, irritiert oder gar sauer auf mich ist, bricht fast meine Welt zusammen.
Wo ist dann meine ganze Stabilität, Sicherheit und Selbstwertschätzung? Die Erfahrung ist, dass es uns beiden sofort sehr schlecht geht, wenn der andere uns auch nur für kurze Zeit die Zuneigung und Wertschätzung entzieht. Es ist dann nahezu unmöglich, sich „gut“ zu fühlen und entspannt und mit Freude den Tag zu genießen. Das haben wir bisher so als gegeben hingenommen, aber auch nie tiefer reflektiert, welch krasse Dynamik das ist.

Ich dachte: Ja klar, wenn wir Beziehungsspannungen haben, geht es mir halt Scheiße. Das ist halt so, kenne ich nicht anders, ist doch klar…
Aber muss das so sein? Nein, muss es eben nicht. Schnarch sagt, dass es existenziell für eine stabile, erwachsene und sich weiterentwickelnde Beziehung ist, dass jeder Partner seinen eigenen Selbstwert findet, spürt, nährt und stärkt, unabhängig von der Zustimmung und Bestätigung des Anderen. Leuchtet ja auch irgendwie ein. Egal ob in der Partnerschaft oder außerhalb: Wenn ich mich nur gut finden kann, wenn andere mich gerade gut finden, ist das natürlich ein ziemlich wackeliges Kartenhaus. Immer muss ich fürchten, die Wertschätzung entzogen zu bekommen, auf der Hut sein, mich schützen, und schauen, wo die nächste Dosis Bestätigung und Wertschätzung herkommt.
Was tun wir jetzt mit dieser Erkenntnis?
Da wir ja Dyaden lieben und herausgefunden haben, dass sie wunderbar für ganz verschiedene Arten der Selbsterforschung geeignet sind, haben wir uns gedacht: Machen wir doch mal eine Dyade zu „Self Validation“. Wir nutzen tatsächlich den englischen Begriff, weil der für uns beide gut resoniert. Auf Deutsch wäre vermutlich „Selbstwert“, „Selbstbestätigung“, „Selbstliebe“ o. ä. passend. Da finde ich es wichtig zu schauen, was für mich selbst am meisten resoniert und auslöst.
Schon bei der ersten Dyade hat die Frage wie ein Blitz bei uns beiden eingeschlagen, und uns mit den tiefsten Tiefen unserer Anteile, Selbstzweifeln, Verletzungen und Verletzlichkeiten in Kontakt gebracht. Das war ziemlich herausfordernd und zuweilen richtig schmerzhaft bis fast unerträglich, aber eben auch höchst relevant und ganz klar auch hilfreich und heilsam. So ist es nicht bei der einen Dyade geblieben, sondern seit Wochen ist es nun unsere morgendliche Praxis, den Tag mit einer Dyade mit der Frage: „Wie lebt Self Validation jetzt in dir?“ zu starten.

Eine Erkenntnis, die mir gleich zu Beginn in der Dyade kam: Verschiedene Anteile von mir haben überhaupt gar kein Konzept dafür, was ein „Selbstwert“ sein soll. Das ist ein völlig fremdes, theoretisches Konzept, was für diese inneren Anteile überhaupt keinen Sinn macht.
Für diese Anteile existiert überhaupt kein eigenständiger „Wert“ in mir, der einfach so gegeben und existent ist, ohne dass ich dafür etwas tun oder erhalten müsste. Die einzige Strategie, die diese Anteile kennen, um wertvoll zu sein bzw. sich irgendwie wertvoll zu fühlen, ist, wenn die Außenwelt, also üblicherweise andere Menschen, dies bestätigen (also „validieren“). Wenn ich „Applaus“, also Wertschätzung, Zustimmung, Liebe etc. bekomme, dann bin ich offenbar wertvoll. Weil es mir Menschen bestätigen. Bleibt die Bestätigung aus, bin ich es nicht.
Wertvoll sein ist damit untrennbar mit Leistung und deren Anerkennung von außen verknüpft. Kein Wunder, dass diese Anteile ständig große Angst haben und total erschöpft sind, weil sie ständig viel leisten und aufpassen müssen, „gut genug“ zu sein. Und natürlich ist es nie genug…
Und dann, Stück für Stück, gibt es da Licht am Ende des Tunnels. Da tauchte das Gefühl und die Erkenntnis auf, dass es wohl doch Möglichkeiten und Erfahrungen gibt, diesen Wert, diese innere Verbindung und Sicherheit zu spüren, ohne dass es von außen stimuliert ist.
Wenn ich gut für mich Sorge. Eine Entscheidung treffe, die mir klar ist und die etwas in mir verändert. Ganz besonders auch wenn ich etwas beschließe und dann für mich auch umsetze. Interessanterweise besonders dann, wenn ich für meine Verhältnisse „diszipliniert“ bin, also Dinge konstant verfolge, die mir wichtig sind und die mir gut tun. Nicht eine Disziplin, weil ich „muss“ oder aus Moral oder Gehorsam, sondern weil ich es will und den Nutzen für mich spüre.

Ja, und irgendwie schwingt auch da immer noch die „Leistung“ mit, eben etwas erreicht zu haben, wenn es auch aus mir kommt. Was wäre, wenn ich einfach so krank wäre, dass ich überhaupt gar nichts tun oder leisten kann? Dass ich nur im Bett liegen kann und rund um die Uhr auf Hilfe von anderen Menschen angewiesen bin? Auch dann muss ich ja „wertvoll“ sein, einfach weil ich existiere. Könnte ich das dann auch noch spüren? Das finde ich nach wie vor schwer vorstellbar.
Offensichtlich ist: Wir sind noch lange nicht fertig damit. Es ist eine andauernde Erforschung und wir sind immer noch so neugierig und fasziniert, dass wir wohl noch eine ganze Weile die morgendliche Dyade mit dieser Frage fortführen werden. Wo wird es uns hinführen? Wir wissen es nicht. Aber wir haben keinen Zweifel, dass es wertvoll und spannend ist und auf die ein oder andere Art zu Entwicklung, Heilung und noch mehr Tiefe in der Beziehung führt. Stay tuned…. 😉
Was löst mein Bericht in dir aus? Resoniert etwas? Kennst du etwas davon? Lebt es ganz anders in dir? Lass es uns in einer Antwort im Blog wissen. Ich bin gespannt.
Herzlich
Jürgen
P.S. Eine meiner Lieblings-Strategien, meine Selbstliebe und meinen Selbstwert zu spüren und zu steigern, ist die „Living Compassion“-Praxis von Robert Gonzales. Im nächsten Retreat mit mir, Ende April, sind aktuell noch 2 Plätze frei. Vielleicht hast du Lust dabei zu sein und dein Selbstmitgefühl zu erforschen und zu erleben?
Lieber Jürgen,
du triffst einen Teil in mir der gerade sehr erleichtert ist und beim Ausatmen eine schwere Last entledigt sieht.
Und du triffst einen Teil der sich ertappt fühlt, vllt sogar schämt und auch ausgeliefert gefühlt sah.
Die Paradoxien oder widerstrebenden „Ichs“ in meiner Brut bersten vor Widersprüchen.
Ich würde sagen auch ich habe primär das Konzept: Leisten gegen Liebe oder Anerkennung nur von außen von „Höheren“ -> früher Eltern, Lehrer, Klassenbeste, Professoren, Musiker, dann Chefs, Kollegen, Freunde, Freundin.
Und so habe ich mich wohl oft kleiner gemacht als ich war und bin. So gelernt – getan.
Die Suppe in die ich da geworfen ward, die werd ich selbst auslöffeln. Tut keiner für mich, für dich auch nicht oder?
Jetzt kommt der Teil: Selbst-Ver-Antwort-ung. Also eine Antwort für mich selbst finden. Eine Dyade mit mir selbst, Tagesreflexion. Self-Esteem(Selbstglanz)-Meditation. Anderen davon berichten. Teilen, hoffentlich bald mit noch mehr Menschen.
Danke 🙂
Lieber Jürgen ,
erstmal vielen Dank für deine Offenheit. Das Thema Selbstwert ist so ein sensibles und zuzugeben, dass es einem daran hapert löst oft Scham aus. Wir wollen ja alle so stark und selbstbewusst wirken …Ich war ganz erleichtert, deinen Text zu lesen, denn ich kenne diese Gefühle und Gedanken nur zu gut! Gerade noch gab es Kritik vonseiten einer Klientin, worauf ich innerlich sehr stark reagiert habe mit Selbstzweifel und Schuldgefühlen. Da kam dein blogbeitrag gerade richtig !!! Ich versuche nun, nicht in die innere Rechtfertigung zu gehen , sondern mich lieb zu haben und zu fühlen, dass mein Wert immer gleich bleibt, egal, wer was im Außen sagt oder tut. Das hilft ! Viele Grüße von Michaela
Lieber Jürgen
Danke für Deinen Input, Dein neuer Blogbeitrag ist höchst interessant für mich. Das Thema \\\“Self validation\\\“/ \\\“Selbstachtung\\\“/ \\\“Selbstwert\\\“ /\\\“Selbstwahrheit\\\“ oder auch \\\“Selbstbestätigung\\\“ genannt, je nach persönlichem und situationsbedingtem Aspekt, begleitet mich schon mein ganzes Leben. Immer wieder taucht es auf. Und ich finde es total spannend und bemerkenswert, dass ihr es mit Dyaden \\\“be- handelt\\\“, im Sinne von \\\“heilen\\\“ – wieder heile machen, gesunden, sowie komplett machen.
Es scheint mir eine Frage der heutigen Zeit zu sein: wie gehen wir mit unserer \\\“Self Validation\\\“ um? Wie finden wir unseren Selbstwert, der unsere Selbstbestätigung, unsere Selbstachtung auslöst ? Wodurch geht die Verbindung zu unserem Selbstwert (unserer Selbst-be-wahrheitung) verloren oder kaputt?
Wie haben denn die Menschen früher, vielleicht vor 100 Jahren, damit gelebt, welchen Umgang hatten sie damit?
Ich glaube, je mehr wir uns mit unserer \\\“self validation\\\“ befassen, desto besser kommen wir zur Auflösung des Dilemmas, welches die scheinbar unerfüllbare Sehnsucht und gleichzeitig auch immer wieder erlebte Erfüllung von aussen (anderen Menschen/Umständen) nach der Selbstwertschätzung hervorbringt, welche jedoch bedingungslos sein sollte…
Dyaden scheinen mir für diese \\\“Entwicklungsreise\\\“ sehr geeignet.
Ich bin gespannt auf Deine weiteren Erfahrungsberichte.
Marielle
Guten Morgen ☀️ ihr Lieben,
auch für mich ist das ein ganz großes Thema und beschäftigt mich schon lange . Ich war sehr lange extrem abhängig vom “ Äußeren“ egal in welchem Bereich. Nachdem es mir körperlich und seelisch wirklich schlecht ging , vor ein paar Jahren , habe ich umdenken und – fühlen gelernt und lerne und „ent“wickle (wie Gerald Hüter sagt sind wir alle mehr oder weniger
„verwickelt“) mich weiterhin täglich .Dies bringt mich immer mehr ins Leben und ins Vertrauen darin das wir Alle Teil eines großen Ganzen sind und deshalb “ natürlich “ wertvoll , egal in welcher Gestalt wir leben , denn wir sind so gedacht .
Fühlt euch umarmt wenn ihr mögt
Liebe Grüße Gaby
Lieber Jürgen,
danke für diesen Beitrag und die damit verbundene Offenheit und Sichtbarkeit.
Mir ist dieses Thema sehr bekannt und das Wissen darum scheint mir Fluch und Segen zugleich.
Nach dem Ende einer sehr langen Beziehung und der Aufarbeitung dieser, ist mir sehr bewusst geworden, dass diese von Dir beschriebene Emotionale Abhängigkeit uns sehr stark geleitet hat.
Ich habe mich oft schuldig gefühlt und versucht die Verantwortung für die Gefühle des andern zu übernehmen und „schlechte“ Gefühle zu beseitigen.
So habe ich versucht wieder an die Anerkennung im Außen zu kommen, die ich in mir selbst nicht gefunden habe (ich hatte bis dahin auch nie danach gesucht ).
Mit dieser Erkenntnis ist es nun einer Herausforderung für mich, in einer neuen Beziehung, mich vollkommen hinzugeben und einzulassen.
Es schwingt immer die Angst mit wieder in einer Abhängigkeit zu landen, die ich für beide Seiten nicht möchte.
So lerne ich gerade achtsam und mutig zu sein, damit ich mich selbst nicht ausbremse.
Also für mich ist des der Begriff ‚Selbstwert‘, den ich noch mehr stärken möchte um das Vertrauen und die Sicherheit in mir zu finden und diese nicht (mehr) vom Außen benötige, um mich zu fühlen.
Lieber Jürgen,
dieses Thema.räsoniert sehr stark in mir, da ich kürzlich durch eine Situation im Job an einen Punkt kam, der mich immer wieder genau zu diesem Thema führt. UND: ich finde den Grat schmal, wenn jemand (in diesem Fall mein Vorgesetzter) mich und meine Kollegen mit Willkür, Unklarheit und top-down, täglich anders, also mit Werten führt, die ich komplett ablehne, begegnet. Kann ich mich durch ausreichend self-validation weiterhin in diesem Job sehen? Oder bedeutet self-validation, zu gehen, als Team in eine offene Auseinandersetzung (Betriebsrat, etc. zu gehen) dies nicht (mehr) mit mir machen zu lassen?
Gerne höre ich deine/eure Sicht dazu.
Und: einmal mehr danke für eure unglaubliche Offenheit, mit der ihr euch immer wieder zeigt. Durch ähnliches Alter, den beständigen Wunsch (Zwang ;-)?) und vermutlich ähnliche Prägung scheinen wir gerade an einem ähnlichen Punkt im Leben zu sein. Jedenfalls unterstützt mich dieses Offenlegen eurer Erkenntnis sehr.
Ganz herzliche Grüße, Sabine
Immer wieder schade, dass wir nicht beieinander wohnen.
P.S.: Herzlichen Dank an Iris. Die Gefühls-/Bedürfnislisten erreichten mich letzte Woche in der Firma in Bremen