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JEDER Teil von mir ist gut!

Geschrieben von Jürgen Engel am .

Wenn ich einen Newsletter oder Blogbeitrag schreibe, dann steht am Anfang meistens die Frage: Was beschäftigt oder begeistert mich gerade?
Die Antwort musste ich heute nicht suchen: Die Theorie der inneren Anteile, genannt „IFS – Internal Family Systems“. Schon seit einer Weile bin ich von dieser zusätzlichen „inneren Landkarte“ angezogen. Doch seit ich im Januar ein Einführungstraining in Heidelberg besucht habe und als Folge nun im März eine IFS-Jahresausbildung beginnen werde, kennt meine Faszination keine Grenzen mehr.

Es ist, als würden hier so viele Fäden, Theorien und Landkarten zusammenfinden und noch mehr Sinn und Tiefe ergeben: GFK, Living Compassion, Systemik, Traumatherapie, Mediation – alles passt ins Bild und ergibt ein noch harmonischeres Ganzes.

Was also ist IFS und warum bin ich so begeistert?
Richard Schwartz, der Urheber der IFS-Therapie, arbeitete ursprünglich als Systemischer Therapeut. Die systemische Therapie geht davon aus, dass Probleme und Verhaltensweisen nicht ausschließlich in der einzelnen Person begründet sind, sondern als Resultat komplexer Wechselwirkungen und Beziehungen innerhalb eines Systems entstehen – Veränderungen in einem Teil des Systems können so positive Auswirkungen auf das Ganze haben. Um einen Menschen also effektiv zu unterstützen, ist es immens hilfreich, ihn nicht isoliert zu betrachten und zu „diagnostizieren“, sondern das gesamte System, in dem er sich befindet, im Blick zu haben. Ein System bezeichnet dabei eine Gruppe von Menschen, die durch ihre wechselseitigen Beziehungen miteinander verbunden sind, wie beispielsweise in einer Familie oder in einer Firma.

In seiner therapeutischen Arbeit hat Richard Schwartz immer wieder festgestellt, dass die Patienten über verschiedene „Anteile“ in ihnen sprachen, als seien es separate Persönlichkeiten mit verschiedenen Ängsten, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen.
Als er anfing zu erkennen, dass die Existenz und die oft mit vielen Spannungen einhergehenden Interaktionen dieser inneren Anteile oder „Teilpersönlichkeiten“ der Normalfall und nicht eine zu diagnostizierende „Multiple Persönlichkeitsstörung“ sind, war IFS geboren.

IFS ist demnach, einfach gesagt, die Erweiterung der systemischen Theorie im Außen (Familie, Freunde, Firma etc.) auf die Psyche. In uns allen existiert auch ein komplexes „inneres Familiensystem“, in der Regel mit dutzenden verschiedener Anteile, die verschiedene Aufgaben übernehmen, immer mit dem Ziel, für unser Leben und Wohlbefinden zu sorgen.

Was mich dabei besonders berührt und so wundervoll die Hypothesen von GFK und Living Compassion ergänzt, ist die Klarheit: ALLE inneren Anteile sind in ihrer Essenz gut. Sie sind eben Teil meiner Selbst und haben damit IMMER die Aufgabe, für mein Wohlbefinden, Leben und Überleben zu sorgen. Die Mittel und Wege, mit denen sie dies tun, sind offensichtlich oft zweifelhaft und nicht selten schmerzhaft und mit immensen Nachteilen und Kosten verbunden, und dennoch ist die Grundintention IMMER, für mich zu sorgen. Daher auch der Titel von Schwartz’ aktuellem Buch, welches ich gerade verschlinge: „No Bad Parts“: Es gibt keine „schlechten“ (oder „bösen“) Anteile.

Wenn du dich mit GFK, Living Compassion oder anderen inneren Landkarten beschäftigst, kann ich dir das Buch wärmstens empfehlen. Es ist ein absoluter Augenöffner und übrigens auch auf Deutsch erschienen. Die Frage, die mit der „IFS-Brille“ immer wieder gestellt wird, ist: Welcher Teil von mir ist gerade aktiv? Welcher Teil von mir spricht gerade bzw. hat gerade diese Angst, dieses Gefühl, diesen Widerstand? Was will dieser Teil mir sagen, wovor will er mich vielleicht schützen?

Je mehr wir mit diesem Blick auf unsere inneren Stimmen und Konflikte schauen, umso mehr ergibt sich eine Klarheit und ein Bild dieser „inneren Familie“. Genau wie in einer „echten“ Familie auch, gibt es hier viele konstante Mitglieder (Anteile), die immer wieder zu verschiedenen Gelegenheiten auftauchen, sich melden und auch oft komplett das Ruder übernehmen.

IFS schlägt vor, diesen inneren Anteilen mit Offenheit, Neugier und Mitgefühl zu begegnen. Hier erkenne ich große Parallelen zur Living Compassion-Arbeit von Robert Gonzales. Auch hier begegnen wir allem, was in uns auftaucht, mit liebevoller Offenheit und Mitgefühl. Die „Haltung“ (auch wie in der GFK) ist auch bei IFS eine unverzichtbare Essenz der Praxis.

Der Ursprung vieler dieser Anteile liegt, wenig überraschend, in den vielfältigen, traumatischen Ereignissen unterschiedlicher Intensität, die wir im Verlauf unseres Lebens und zumeist in der Kindheit durchlebt haben. Hier werden die Rollen der verschiedenen Anteile gebildet, die aufgrund solcher, schmerzhafter Erlebnisse entscheiden, mich künftig auf eine bestimmte Art und Weise vor zukünftigen schmerzhaften Erlebnissen und insbesondere Emotionen zu schützen.

Besonders erhellend ist hierbei die Unterscheidung dreier verschiedener Typen von Anteilen mit jeweils verschiedenen Rollen und Aufgaben und der Essenz des Menschen, die im IFS „Self“ – also das Selbst oder „Ich“ – genannt wird, welches kein Teil ist.
Im Wesentlichen gibt es zwei Sorten von Anteilen: Die Verbannten (Exiles) und die Beschützer (Protectors).
Die verbannten Anteile tragen tiefe, schmerzhafte Gefühle, die wir nie wieder erleben wollen und somit abgespalten wurden, um uns (das System) funktionsfähig zu halten. Diese entstanden üblicherweise aus höchst schmerzhaften, traumatischen Erlebnissen in der Kindheit, mit denen wir nicht umgehen konnten und deren Gefühle uns überfordert haben.

Doch so sehr diese Anteile auch versteckt und geschützt sind, laufen wir ständig Gefahr, dass sie durch unangenehme Situationen im Außen „getriggert“ werden. Sie tauchen dann auf und neigen zu Extremen, um endlich gehört und geheilt zu werden.
Die Aufgabe der Beschützer-Anteile ist es, die verbannten Anteile zu beschützen, mit dem Ziel, nie wieder diese unerträglichen Gefühle fühlen zu müssen. Es gibt zwei wesentliche Arten von Beschützern: Die Manager und die Feuerbekämpfer.

Die Manager sind die Teile, die zu einem großen Teil unseres Lebens aktiv sind und unser Verhalten, unsere Wahrnehmung, Persönlichkeit, Haltung etc. steuern. Sie sind dazu da, die Welt, mein Umfeld etc. unter Kontrolle zu halten, um so die Verbannten und das System zu schützen. Diese Manager sind oft sehr streng und kritisch, ehrgeizig bis hin zu perfektionistisch. Sie handeln proaktiv und strategisch, bis hin zu sehr rigide kontrollierend und manipulierend. Sie sorgen dafür, dass wir „gut dastehen“, gemocht werden, keine Konflikte haben usw. Kurzum, sie sind dafür da, dass „alles glatt läuft“ und wir keine unangenehmen Situationen mit den damit einhergehenden, unangenehmen Gefühlen erleben müssen. Diese sind uns so bekannt und so dominant, dass wir meist davon überzeugt sind, wir „sind“ diese Anteile. Das bin ich, das ist die Art, wie ich eben bin. IFS sagt dazu auch „selbstähnliche“ Anteile, man könnte auch Persona oder Ego dazu sagen. Es ist das, was die Welt zu sehen bekommt und wovon wir oft überzeugt sind: So bin ich, das bin ich.

Wenn es nun passiert, dass wir Situationen ausgesetzt sind, mit denen die Manager nicht mehr zurechtkommen, sodass wir Gefahr laufen, die schlimmen Gefühle der verbannten Anteile zu erleben, kommen die Feuerbekämpfer ins Spiel. Sie bekämpfen Feuer mit Feuer, sie eskalieren also. Sie haben extreme Verhaltensweisen, sind impulsiv, reaktiv und unkontrolliert. Jegliche extremen Handlungen und Verhaltensweisen wie Süchte, Gewalt, Selbstverletzung, Müdigkeit, Essattacken bis hin zu Suizidalität sind ihnen recht, um mit allen Mitteln die verbannten Anteile zu schützen. Sie haben kein Gefühl oder Gewahrsein für den Preis und den Schaden, den sie damit anrichten.

Und in der Mitte all dieser Anteile wohnt laut IFS das sogenannte „Selbst“, welches kein Anteil ist, sondern meine reine, menschliche Essenz. Es ist der Ort, von dem ich mit vertrauensvoller Ruhe, Neugier und Mitgefühl auf mich und die Welt schaue, wo ich kraftvoll, klar und mutig handle und spreche. In der IFS-Praxis versuchen wir immer wieder, zu diesem Ort oder Zustand des „Selbst“ zurückzukehren, um von dort mit Mitgefühl in Kontakt mit unseren Anteilen gehen zu können. Das ist (sehr verkürzt dargestellt) der Prozess der Heilung, der zunehmend dazu führt, dass die Anteile Vertrauen fassen und erkennen, dass wir jetzt erwachsen sind und sie mich nicht mehr durch ihre extremen Verhaltensweisen schützen müssen.

HIER auf der Website von Katrin Wulff, IFS-Therapeutin aus Lübeck findest du die bildliche Darstellung der Teile, die ich zu Beginn eingefügt habe, mit einer ausführlicheren Erklärung der Theorie. Eine weitere Darstellung, die mir gefällt, auf englisch findest du HIER:

Ich hatte eigentlich nicht vor, in diesem Beitrag so umfassend die Elemente des IFS zu erklären, doch das war es nun, wohin mich mein natürlicher Schreibfluss geführt hat, und so vertraue ich (auch wenn ein Anteil sich meldet, der etwas unsicher ist ;-)), dass dies nicht zu kompliziert und theoretisch war, sondern ein Beitrag und eine Inspiration.
Seit einer Weile schon experimentiere ich in unseren Trainings und Gruppen mit der „Brille“ des IFS, indem ich den Blick auf die inneren Anteile einlade. Immer wieder mache ich da die Erfahrung, dass die TeilnehmerInnen ohne ausführliche Erklärung sehr natürlich und intuitiv das Konzept der Anteile verstehen und direkt eigene Anteile identifizieren und mit ihnen in Kontakt gehen können.

Mein Verständnis von GFK und Living Compassion wird durch diese zusätzliche, innere Landkarte gerade wundervoll erweitert und bereichert, was ich als sehr inspirierend und motivierend erlebe. Dies wird sicherlich nicht mein letzter Beitrag zu IFS sein – ich bin selbst schon sehr gespannt, was ich in 2 Wochen in meinem ersten Ausbildungsmodul lernen und erleben werde.

Was mich ganz besonders freuen würde, wäre hier etwas Feedback und Austausch zu haben. Egal, ob dir IFS schon bekannt ist oder du hier zum ersten Mal von diesem Konzept gelesen hast: Was ist in dir lebendig, nach dem Lesen dieses Beitrags? Gibt es Resonanz? Widerstand? Fragen? Skepsis? Welche Anteile werden in dir lebendig? 😉
Ich freue mich auf Kontakt!

Herzlich
Jürgen

P.S. Wie faszinierend, dass Iris und ich gerade jetzt im April zusammen mit John Kinyon ein Retreat halten werden, welches Johns „Mediate your Life“-Konzept mit Living Compassion verbindet. Johns Idee von „Mediate your Life“ ist, dass alles im Leben eine Mediation ist, insbesondere auch der Kontakt zu deinem Inneren. Dieser Blick hat große Ähnlichkeit mit IFS, denn hier wird den verschiedenen, im Konflikt stehenden Stimmen (Anteilen) ebenfalls mit Offenheit und Empathie zugehört, so wie es eben ein Mediator mit Konfliktparteien auch tut. Wenn du interessiert bist, schau gerne HIER im Detail, was wir zusammen mit John anbieten werden, aktuell gibt es noch Plätze.

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